Beispiel für die Diskriminierung Behinderter

Mit der Bahn nach Dresden


Wenn einer eine Reise tut...
... dann wende er sich an die Deutsche Bahn!
Oder
Horschesemol, ich hätt' da mal gern ein Problem!

Der Sachverhalt

(von Dr. Corinna Zolle)

Ausgangssituation:

Eine Wochenendtour zur Ausstellung "Der imperfekte Mensch" im Deutschen Hygienemuseum in Dresden, irgendwann im Juni, mit 20 Leuten, davon acht Rollstuhlfahrer.

Aus unserer reichhaltigen Erfahrung wissen wir, daß im neuen ICE mit Neigetechnik nur noch ein Stellplatz für Rollstuhlfahrer eingerichtet ist. Trotzdem versuchen wir unser Glück. Vielleicht hat die Deutsche Bahn ja ein Einsehen.

Ein Anruf bei einer äußerst hilfsbereiten Mitarbeiterin des Reisebüros der Deutschen Bahn läßt uns erfahren, daß wir einfach unsere Wünsche äußern müssen, die Bahn bemüht sich dann sowohl um die Beförderung als auch um die Unterbringung in einem zentral gelegenen und barrierefreien Hotel in Dresden. Die Fahrtkosten für eine derart große Gruppe würden einfach pro Person zwischen 40 und 90 DM betragen, abhängig davon, ob alle eine BahnCard haben oder nicht. Mein Hinweis, daß ich Probleme bei der Beförderung befürchte, wurde damit abgetan, daß dafür eine andere Stelle zuständig sei. Bereits kurze Zeit später wurden mir diverse Hotels in Dresden vorgeschlagen, die möglicherweise geeignet sein könnten, und die auch in unserem vorgesehenen Kostenrahmen lagen. Also starteten wir die Ausschreibung.

Einige Tage später erhielt ich einen Anruf von Herrn Muscheid von der Deutschen Bahn, er hatte die Problematik des Transportes von acht Rollstuhlfahrern in einem ICE mit Neigetechnik nach Dresden festgestellt. Er teilte uns mit, er und seine Mitarbeiter hätten sich eingehend mit dem Problem auseinandergesetzt, es tue ihm außerordentlich leid, aber er sehe keine Möglichkeit, uns mit der Deutschen Bahn nach Dresden zu befördern. In den ICE nach Dresden paßten maximal zwei Rollstühle, außerdem sei es unmöglich, bei einem Aufenthalt von nur zwei Minuten in Frankfurt acht Rollstuhlfahrer zu verladen. Er bedauere dies sehr, aber wir sollten uns nach einer anderen Transportmöglichkeit umsehen.

Kurze Zeit später ein weiteres Gespräch: nach weiterer eingehender Prüfung hätten sie eine Möglichkeit gefunden uns nach Dresden zu bringen, allerdings müßten wir einige Strapazen auf uns nehmen. Er schlug uns vor, von Mainz über das Ruhrgebiet nach Dresden zu fahren, im Fahrradabteil. Dieses sei zwar nicht besonders komfortabel, aber doch immerhin beheizt. Allerdings gibt es in diesem Abteil keine Sitzplätze, was bedeutet, daß unsere nicht rollstuhlfahrenden Begleiter und Begleiterinnen in einem anderen Abteil sitzen müßten. Außerdem gäbe es vom Fahrradabteil aus keine Anbindung an eine Behindertentoilette. Die Reise daure zirka zehn Stunden. Ich versicherte ihm, daß wir diese Bedingungen nicht für zumutbar hielten und sagte die Fahrt ab.

Am nächsten Tag ein neuerlicher Anruf: uns wurde vorgeschlagen, daß alle nichtbehinderten Mitreisenden sowie zwei der Rollstuhlfahrer mit dem ersten Zug nach Dresden fahren sollten, die verbleibenden sechs Rollstuhlfahrer könnten dann im Zweistundenrhythmus jeweils paarweise nachkommen. Die letzten beiden würden etwa um 20:00 in Dresden anreisen. Ich war versucht dieses Angebot anzunehmen, schließlich lag uns der Besuch in Dresden sehr am Herzen. Doch nun kam der Hammer: den günstigen Gruppentarif könne natürlich nur die erste Gruppe in Anspruch nehmen; die später Nachkommenden müßten mit Fahrtkosten zwischen 200 und 300 DM für die einfache Strecke rechnen. Auf meinen Einwand, daß es doch nicht zu unseren finanziellen Lasten gehen könne, wenn die Deutsche Bahn nicht in der Lage sei, eine Gruppe von acht Rollstuhlfahrern zu transportieren, wurde mir bedauernd erwidert, so sei nun mal die Vorschrift.

Wir haben diese Art zu reisen nun endgültig abgeblasen und versuchen per Flugzeug nach Dresden zu kommen.

Sollte ich ein Zeugnis für die Mitarbeiter der Bahn erstellen so würde es lauten:

Er hat sich stets bemüht!

Dr. Corina Zolle
ZsL Mainz
Rheinstr. 4 F
55116 Mainz


Die juristische Beurteilung

(von Alexander Drewes vom Forum behinderter
Juristinnen und Juristen)

Vorspruch:

Die Bewertung erfolgt auf der Grundlage des Entwurfs eines Gleichstellungsgesetz für Behinderte (BehGleichstG) des FbJJ vom 14.01.2001, da zivilrechtliche Materien durch das Bundesbehindertengleichstellungsgesetz (BBGG) im Referentenentwurf vom 29.06.2001 nicht mehr mitumfasst sind, sondern durch ein eigenständiges Zivilrechtliches Antidiskriminierungsgesetz (ZAG) geregelt werden sollen, welches vom Bundesministerium der Justiz (BMJ) noch für diese Legislaturperiode angekündigt ist:

Das Problem ist vorliegend ein zweifaches. Einmal kann die Deutsche Bahn AG heute vielfach weder infrastrukturell noch hinsichtlich ihres Fuhrparkes garantieren, dass diese barrierefrei zugänglich und auch nutzbar sind (was das vorliegende Beispiel mit dem Fahrradabteil, von dem aus man nicht auf die behindertengerecht gestaltete Toilette gelangt, gut verdeutlicht), zum anderen finden Gruppen von Behinderten, die gemeinsam reisen möchten, auch noch im Tarifdschungel Schlingpflanzen, in denen man sich verheddern kann, wenn die sonstigen Bedingungen in Ordnung sind, will heißen, das Unternehmen die Barrierefreiheit von Bahnhofsanlagen und Fahrzeugen wenigstens für einige wenige garantieren kann, wie im vorliegenden Fall teilweise allerdings bereits unter unzumutbaren Bedingungen.Es fehlt bei der Deutschen Bahn AG vielfach - wie auch vorliegend - nicht am guten Willen, nur mit dem ist es offenkundig nicht getan.

Lösungsansatz:

Art. 3 Ziff. 3 des BehGleichstG´es ändert § 4 Abs. 2 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (AEG) dahingehend, dass Eisenbahnunternehmen nach dem 30.06.2003 verpflichtet sind, sowohl ihre neu angeschafften Fahrzeuge als auch wesentlich umgestaltete oder neu gebaute Infrastrukturmaßnahmen, also Bahnsteige und Bahnhöfe oder Haltepunkte, barrierefrei zu gestalten. Barrierefrei heisst hier i.S.d. Art. 1 § 6 Abs. 1 Satz 1 BehGleichstG, dass die Zugänglichkeit (wie komme ich in den Zug hinein) als auch die Nutzbarkeit (gibt es behindertengerechte Plätze in den Zügen; können gastronomische und sonstige Angebote in Zügen und Bahnhofshallen auch mit Rollstühlen genutzt werden; gibt es neben Ansagen - wichtig für Sehbehinderte - in den Zügen auch Anzeigen, die den nächsten Haltepunkt auch für Hörbehinderte nachvollziehbar machen; sind rollstuhlgerecht ausgestattete Toiletten auch von den behindertengerechten Plätzen aus erreichbar; gibt es - für lernbehinderte Menschen - leicht verständliche Piktogramme in Zügen und Bahnhöfen) gewährleistet sein muss. Ich muss als Behinderter das Angebot selbstbestimmt (d.h. z.B. fahrzeuggebundene Einstiegshilfen), unabhängig (komme ich ohne fremde Hilfe an meinen Platz und kann weitere Angebote nutzen), in der allgemein üblichen Weise (der Transport im Fahrradabteil hat damit ausgedient), ohne besondere Erschwernis (komme ich mit dem Rollstuhl von meinem Platz aus z.B. in das Bordrestaurant) und ohne fremde Hilfe nutzen können, nur dann sind die Kriterien der Barrierefreiheit tatsächlich erfüllt (Art. 1 § 6 Abs. 1 Satz 2 BehGleichstG). Weiterhin orientiert sich der Begriff der Barrierefreiheit i.S.d. Art. 1 § 6 Abs. 1 BehGleichstG am jeweiligen Stand der Technik (Art. 1 § 6 Abs. 2 BehGleichstG). Das hieße für - angemeldete - Gruppenreisen von Behinderten, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, nach dem bereits heute vorherrschenden Stand der Technik z.B. bei Hochgeschwindigkeitszügen folgendes:

Bei diesen Zügen ist die Montage und Demontage von Sitzen eine Sache von Sekunden bis wenigen Minuten. Hier kann sich der Verkehrsträger nicht auf die Argumentation zurück ziehen, es sei ihm technisch unmöglich, eine größere Reisegruppe zu transportieren, die auf Rollstühle angewiesen ist. Zumindest hat der Verkehrsträger bei Unmöglichkeit des Transports von ganzen Behinderten-Gruppen mit einem Zug jedoch zu gewährleisten, dass er Gruppen von Behinderten zu den gleichen Konditionen befördert wie Nichtbehinderte, will er nicht - in Analogie zu Art. 1 § 5 Abs. 1 Ziff. 3 BehGleichstG - ein Rechtsgeschäft ggü. Behinderten nachteiliger gestalten als ggü. Nichtbehinderten. Eine diesbezügliche Diskriminierung hätte einen Schadensersatzanspruch des oder der Diskriminierten zur Folge, bei der (bei der Deutschen Bahn AG unter den ggw. Bedingungen ja immer ´mal wieder gegebenen) Gefahr der Wiederholung der Diskriminierung besteht ein Anspruch, auf Unterlassung der Diskriminierung zu klagen (vgl. zu beidem: Art. 1 § 5 Abs. 3 BehGleichstG).

Alexander Drewes, Tischbeinstraße 15, 34 121 Kassel
Fon: +49 (5 61) 2 86 10 20 - 0, +49 (1 79) 5 20 55 83, Fax: +49 (5 61) 2 86 10 20 - 1
 Alexander.Drewes@freenet.de 

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