Berlin/Kassel (kobinet) Anfang Januar ging es im Reichstagsgebäude noch ruhig zu, denn die Bundestagsfraktionen hatten ihre Arbeit noch nicht richtig aufgenommen und bereiteten sich auf die nächsten Sitzungswochen vor. kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul gelang es, den neuen behindertenpolitischen Sprecher der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, Markus Kurth, in diesem noch jungen Jahr nach seinem Hintergrund und seinen Zielen zu befragen.
kobinet-nachrichten: Mit Ihrem Einzug in den Deutschen Bundestag haben Sie als sozialpolitischer und behindertenpolitischer Sprecher der Grünen Bundestagsfraktion gleich heiße Eisen der aktuellen Diskussion übertragen bekommen. Auf welche bisherigen Erfahrungen können Sie dabei zurückgreifen?
Markus Kurth: Bei meinem neuen Amt als sozialpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion stütze ich mich auf vielfältige berufliche und politische Erfahrungen, muss mir aber als Neuling im Bundestag natürlich auch einiges erarbeiten. Zurückgreifen kann ich unter anderem auf meine Arbeit als Bildungsmanager bei der Heinrich Böll Stiftung NRW, wo ich für die Themenbereiche «Arbeit & Soziales» sowie «Stadtentwicklung» verantwortlich zeichnete. Unterstützung und Zuarbeit erfahre ich seit langem von einem «persönlichen» Netzwerk von Akteuren, die insbesondere in NRW in Qualifizierungs- und Beschäftigungsgesellschaften, in bürgerschaftlichen Selbsthilfegruppen oder in Programmen wie «Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf» (jetzt: Bund-Länder-Programm ´Soziale Stadt`) aktiv sind. Als Politiker werde ich wie bisher versuchen, möglichst viele Debatten in der Sozialpolitik aufzunehmen, sie innerhalb des Grünen Wertekanons «Selbstbestimmung» - Teilhabe - Gerechtigkeit» weiter zu entwickeln und politisch zu bündeln.
kobinet-nachrichten: Welche Schwerpunkte haben Sie sich als neuer Ansprechpartner der Fraktion für die Behindertenpolitik gesetzt und welche Verbindung hatten Sie bisher zur Behindertenpolitik?
Markus Kurth: Schwerpunkt der neuen Legislaturperiode ist sicherlich die Fortsetzung der erfolgreichen
Initiative für die Eingliederung von Menschen mit Behinderungen in das Erwerbsleben. Im Kontext von Hartz stellen sich da ganz neue Herausforderungen:
Wie können wir z.B. die Personal-Service-Agenturen mit den Integrationsfachdiensten verzahnen?
Können wir besondere Konditionen bei der Leiharbeit vereinbaren?
Wie lässt sich effektiv verhindern, dass Menschen mit Behinderungen im Rahmen der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe einfach dem Segment «Nicht-arbeitsfähige Hilfeempfänger» zugeschlagen werden und so aus dem Arbeitsmarkt gedrängt werden?
In diesem Zusammenhang spielt auch das Thema «Mobilität für Menschen mit Behinderungen» eine große Rolle. Diese Schwerpunktsetzung bedeutet aber nicht, dass ich Themen wie das «Antidiskriminierungsgesetz», Verbesserung der Eingliederungshilfen oder PID von der Agenda streiche. Im «Europäischen Jahr des Menschen mit Behinderungen» werde ich Gelegenheiten suchen und schaffen, diese zentralen Punkte der Behindertenpolitik in den Deutschen Bundestag auch jenseits der Fachpolitik einzubringen. Für ernst gemeinte Anregungen und Hinweise bin ich immer dankbar!
kobinet-nachrichten: Wie sehen Sie die Chancen bei der derzeitigen Finanzlage, dass wir eine echte Verbesserung bei der Absicherung und Verbesserung der Selbstbestimmung für Menschen bekommen, die auf Assistenz (Pflege) angewiesen sind?
Markus Kurth: Die Diskussion um Assistenzen in der Pflege, das persönliche Budget und ähnliche Fragen, bei denen die HaushaltspolitikerInnen im Bund und den Ländern rote Ohren bekommen, wird nicht einfach. Wunder darf man da nicht erwarten, schrittweise Verbesserungen aber schon. Zusätzliche Mittel können außerdem nur dann mobilisiert werden, wenn es gleichzeitig auch Effizienzverbesserungen im System gibt. Im übrigen kommt es auf die Unterstützung der FachpolitikerInnen im Parlament durch die Betroffenen und ihre Verbände an. So viel Druck, wie ihn etwa die Pharma- oder Apothekerlobby zuletzt auf alle Abgeordneten ausgeübt hat, würde ich mir in der Behindertenpolitik auch wünschen. Leider ist das Politikfeld «Menschen mit Behinderungen» in den Medien total randständig. Zum internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen setzte nur die Frankfurter Rundschau einen Akzent mit einem Artikel - allen anderen überregionalen Tageszeitungen war der Anlass nicht einmal eine Kurzmeldung wert. Wohlfeil lässt sich offenbar nur über (angebliche) Misserfolge der Regierung berichten. Erfolgsstories wie das SGB IX oder das Gleichstellungsgesetz stören da scheinbar.
kobinet-nachrichten: Wie planen Sie die Zusammenarbeit mit den Behindertenverbänden in den nächsten vier Jahren zu gestalten?
Markus Kurth: Ich erhoffe mir eine konstruktive Zusammenarbeit mit Verständnis dafür, dass sich in der Politik nichts 1:1 umsetzen lässt. Die Informations- und Verbandsarbeit sollte sich nicht zuletzt auch auf diejenigen richten, die nicht FachpolitikerInnen sind, denn die «zuständigen» Leute im Parlament und in den Ministerien sind meist eh` mit Empathie für die Klientel ausgestattet (jedenfalls in dieser Regierungskoalition).
kobinet-nachrichten: Wenn Sie zwei Wünsche für diese Legislatur zur Behindertenpolitik frei hätten, was würden Sie gerne umgesetzt sehen?
Markus Kurth: Erstens ein wirksames Antidiskriminierungsgesetz und zweitens die Verabschiedung eines eigenständigen Leistungsgesetzes, um die Eingliederungshilfen aus der Zuständigkeit der Sozialhilfeträger herauszulösen. Beide Wünsche sind aber ziemliche Brocken.
kobinet-nachrichten: Herzlichen Dank für das Interview, alles Gute für 2003 und viel Erfolg.