NETZWERK ARTIKEL 3
Verein für Menschenrechte und Gleichstellung Behinderter e.V.
Aus: Behinderung & Menschenrecht
- Lfd. Nr. 22 - Januar/Februar 2003
Politik im Durchlauferhitzer - Horst Frehe will spürbare Veränderungen in der Behindertenpolitik
Bonn (kobinet) Der Leiter der Nationalen Koordinierungsstelle für das Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen, Horst Frehe, erwartet, dass sich die behindertenpolitische Diskussion wie in einem Durchlauferhitzer zuspitzen, erweitern und gerade auch international öffnen wird. «Wenn in China die Zwangssterilisation geistig behinderter Menschen legalisiert ist, in den USA vermindert schuldfähige lernbehinderte Straftäter hingerichtet werden, in dem Beitrittsstaat Rumänien behinderte Waisen in Anstalten eingesperrt und vernachlässigt werden, wenn in den zwei Ländern der EU - Belgien und Niederlande - Euthanasiegesetze verabschiedet werden, mit denen nicht einwilligungsfähige behinderte Menschen zu Tode gespritzt werden, dann wird deutlich, dass Behindertenpolitik keine nationale oder gar lokale Angelegenheit ist, sondern die Durchsetzung der Bürger- und Menschenrechte uns ein globales Engagement abverlangt», sagt Frehe.
Der Bremer Richter, der für das Europäische Jahr in Bonn arbeitet, ist der Auffassung, wenn allen Menschen die gleichen Freiheitsrechte und die gleiche Menschenwürde zuteil werden sollen - wie in der Erklärung der Menschenrechte von 1948 vorgesehen - dann müssen die Voraussetzungen hierfür - insbesondere für behinderte Menschen - erst noch geschaffen werden. Die universelle Geltung der Menschenrechte lasse kein Sonderrecht minderer Güte für behinderte Menschen zu.
Der Deklaration der Menschenrechte von 1948 folgte 1971 die Deklaration der Rechte geistig behinderter Menschen und 1975 die Deklaration der Rechte behinderter Menschen. Diese Deklarationen sind für die Vertragsstaaten aber nicht bindend. Mit den «Standard Rules», den Grundregeln für die Herstellung der Chancengleichheit für Menschen mit Behinderungen von 1993, wurde erstmalig ein Katalog von Regeln und Anforderungen formuliert, die Staaten beachten müssen, die den Anspruch erheben, behinderte Menschen in vollem Umfange einzubeziehen und sie nicht zu diskriminieren. Ihre Umsetzung kann aber auch nicht
verbindlich eingefordert werden.
Mit dem Beschluss des Europäischen Rates, 2003 zum Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen zu machen, so Frehe, wurde ein wichtiger Schritt gemacht, die Teilhabe behinderter Menschen in Europa zu verbessern. Es gehe 2003 darum, einen Politikwechsel einzuleiten. Es dürfe nicht bei einer Imagekampagne mit Malwettbewerben, einem Europäischen Marsch und einer Eröffnungsfeier in Athen bleiben. Ergebnis des Jahres müssen nach den Worten des Juristen spürbare Veränderungen in der Behindertenpolitik sein.
«Die Ziele des Europäischen Jahres haben wir in Deutschland in drei Forderungen zusammengefasst, die auch die Neuausrichtung der Behindertenpolitik in Deutschland kennzeichnen:
* Teilhabe verwirklichen!
* Selbstbestimmung ermöglichen!
* Gleichstellung durchsetzen!
Dabei sollen in den Schwerpunkten, die wir uns gemeinsam gesetzt haben, konkrete Fortschritte erzielt werden», betont Frehe die Gemeinsamkeit zwischen Verbänden und offizieller Politik. Er umriss ein Acht-Punkte-Programm für das Jahr 2003:
Acht Punkte deutscher Behindertenpolitik
- Mit dem Sozialgesetzbuch - Neuntes Buch (SGB IX) und dem Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) wurden die Instrumente geschaffen, die Gleichstellung behinderter Menschen gegenüber den Bundesbehörden und Sozialleistungsträgern voranzubringen. Die Umsetzung des Benachteiligungsverbotes im Zivilrecht, die Ergänzung der Gleichstellungsvorschriften um solche für Länder und Kommunen, die Beseitigung von Ungleichbehandlungen im Sexualstrafrecht und ein intensiver Diskurs über europäisches und internationales Gleichstellungsrecht soll konkrete Ergebnisse für gesetzliche Initiativen erbringen, die Benachteiligungen behinderter Menschen weiter abbauen.
- Die Verbesserung der Chancen behinderter Menschen auf einen angemessenen Arbeitsplatz ist nicht nur durch das 50.000-Job-Programm erreicht worden. Es wurden mit der Novellierung des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG) und der Einfügung in das SGB IX einige neue Instrumente geschaffen, deren Wirksamkeit zu überprüfen ist und die gegebenenfalls weiterentwickelt werden müssen. Dieser Prozess soll im Europäischen Jahr unterstützt und forciert werden.
- Behinderte Menschen sind besonderen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt und mehr als Andere auf Leistungen im Gesundheitssystem angewiesen. Diese Bedürfnisse gegenüber Krankenversicherungen, Rehabilitationsträgern und Leistungserbringern zu konkretisieren, zu formulieren und zu behaupten muss eine wichtige Aufgabe im Rahmen der Gesundheitsreform sein und soll im Sinne der Sensibilisierung vorangetrieben werden.
- Gerade auch die ethischen Debatten in der letzten Legislaturperiode haben deutlich gemacht, wie stark die elementaren Rechte Behinderter von einem verantwortlichen Diskurs abhängen. Das Ringen in der Enquéte-Kommission „Recht und Ethik in der modernen Medizin“ um verantwortliche ethische Positionen bei dem Umgang mit modernen Techniken hat gezeigt, wie sehr diese insbesondere das Lebensrecht behinderter Menschen tangieren. Allen Relativierungen der Lebensrechte behinderter Menschen und des Wertes behinderten Lebens kann nur entgegengewirkt werden, wenn zu diesen Fragen ein breites gemeinsames gesellschaftliches Verständnis besteht, das nur über den intensiven Diskurs erzeugt werden kann.
- Ein Leben mit Persönlicher Assistenz muss die gleiche Selbstbestimmung ermöglichen wie sie Menschen, die nicht auf Hilfen angewiesen sind, selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen. Persönliche Assistenz muss aus der Ecke eines medizinisch-pflegerischen Verständnisses von Hilfen für behinderte Menschen heraus und endlich den Charakter einer Leistung zur gesellschaftlichen Teilhabe erhalten. Die Gestaltung des Alltags behinderter Menschen darf nicht mehr nur unter den Prämissen von pflegerischer Versorgung und medizinischer Therapie erfolgen. Die Hilfen so gestalten zu können, dass ein selbstbestimmtes Leben möglich wird, ist ein Anspruch, der unmittelbar aus dem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit folgt.
- Die Umsetzung des Grundsatzes der Barrierefreiheit als Gestaltungsprinzip für unsere Umwelt wird einen vielfältigen Einsatz der im BGG vorgesehenen Instrumente erfordern:
- Die Anforderungen an Busse, Bahnen und Verkehrsanlagen müssen in Nahverkehrsplänen festgelegt werden,
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Programme zu einem barrierefreien Betrieb von Eisenbahnen sind aufzustellen,
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Zielvereinbarungen über ein barrierefreies Waren-, Dienstleistungs- und Informationsangebot müssen formuliert und abgeschlossen werden und
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der öffentliche Bereich muss sich auch über Ländergleichstellungsgesetze einheitlichen Anforderungen an die Barrierefreiheit stellen.
Die Wege hierzu sind zu diskutieren. Die Umsetzung soll in dem Europäischen Jahr auch über einen Wettbewerb «Barrierefreie Städte und Kommunen» entscheidend vorangebracht werden.
- Behinderte Menschen wollen nicht länger nur Objekt der Forschung und Lehre nichtbehinderter Wissenschaftler und von ihnen beherrschter Disziplinen sein. Ein eigenes Verständnis behinderungsrelevanter Themen durch selbst betroffene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu entwickeln, ist das Interesse der «Disability Studies». Der wissenschaftliche Austausch über den schon vorhandenen Forschungsstand soll erstmalig in Deutschland durch eine Sommeruniversität erreicht werden.
- Aber nicht nur Bildung, Wissenschaft und Politik sollen im Europäischen Jahr gepflegt werden. Eine qualitativ hochwertige Behindertenkultur soll auf einem bundesweiten Festival vorgestellt werden und wird durch weitere zahlreiche Veranstaltungen in den Bereichen der Malerei, der Literatur, der Filmkunst und des Theaters an vielen Orten in Deutschland ergänzt.
Franz Schmahl
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Dienstag, 22.08.2023, 09.06