Am 01.01.2003 trat das Gesetz über eine bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (GSiG) in Kraft. Ob damit zum ersten Mal eine Grundsicherung als Alternative zur Sozialhilfe wirklich positiv wirksam werden kann, muss jedoch mit einigen Fragezeichen versehen werden.
Diese neue Sozialleistung soll vor allem „verschämte Armut“ abbauen, die besonders aus den relativ hohen Sozialhilfezugangsschwellen entsteht. Die Grundsicherung ist mit diesem Ziel auf einen speziellen Personenkreis bezogen, auf die über 65-Jährigen und die unabhängig von der Arbeitsmarktlage dauerhaft voll Erwerbsgeminderten, die das 18. Lebensjahr vollendet haben.
Ohne dass ein gänzlich neues sozialpolitisches Konzept zugrunde liegt, wurden mit dem Grundsicherungsgesetz die Leistungen für den oben genannten Personenkreis aus dem BSHG (Bundessozialhilfegesetz) herausgenommen und in einem eigenständigen, dem BSHG vorrangigen Sozialleistungsgesetz in veränderter Form neu formuliert. Infolge der ursprünglichen Absicht, die Grundsicherung als Teil des BSHG zu verabschieden, wurden dabei die Regelungen des Sozialhilferechts zu einem großen Teil übernommen, jedoch auch einige die Zugangsschwellen senkende, und einige die Bedarfsgerechtigkeit einschränkende Veränderungen vorgenommen.
Leistungen nach diesem Gesetz können auf Antrag zum einen Menschen erhalten, die das 65. Lebensjahr vollendet haben, zum anderen Menschen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben und (im Sinne des § 43 Absatz 2 SGB VI) voll erwerbsgemindert sind, „und bei denen unwahrscheinlich ist, dass die volle Erwerbsminderung behoben werden kann“ (so der Gesetzestext). Voraussetzung ist, dass diese Personen ihren Lebensunterhalt nicht aus ihrem Einkommen und Vermögen sichern können.
Antragsberechtigt ist eine 18 bis 65 Jahre alte Person auch dann, wenn sie keine Rente wegen voller Erwerbsminderung erhält, wenn z.B. die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt sind, wohl aber die gesundheitlichen.
Für Beschäftigte in Werkstätten für Menschen mit Behinderung gelte die so genannte „Vermutung der vollen Erwerbsminderung“; infolgedessen erhalten Werkstattmitarbeiter ohne gesonderte Begutachtung Grundsicherungsleistungen – so eine Pressemitteilung der Bundesvereinigung Lebenshilfe e.V. vom 7.1.03.
Wenn es um die Grundsicherung geht, werden das Einkommen bzw. das Vermögen eines nicht getrennt lebenden Ehegatten und des Partners oder der Partnerin in einer eheähnlichen Gemeinschaft berücksichtigt, nicht aber – und das ist wohl die eigentliche Neuerung in diesem Gesetz – die Unterhaltsansprüche der Antragsberechtigten gegenüber ihren Kindern und Eltern, sofern deren jährliches Gesamteinkommen unter einem Betrag von 100.000 Euro liegt. So können z. B. Eltern, die bisher keinen Sozialhilfeantrag für ihre behinderten Kinder gestellt haben, weil sie keine Unterhaltsprüfung hinnehmen wollten, jetzt die Grundsicherung beantragen.
Mit dem Grundsicherungsgesetz wird zunächst die Vermutung zugrunde gelegt, dass das Einkommen der Unterhaltspflichtigen einen Betrag von 100.000 Euro nicht überschreitet. Während diejenigen, die Renten oder Sozialhilfe beziehen, bereits schriftlich über die Grundsicherung informiert wurden, müssen sich andere Leistungsberechtigte selbst um Antragsformulare bemühen. Dies betrifft vor allem erwachsene behinderte Menschen, die zu Hause bei Eltern oder Verwandten leben und trotz eigener Bedürftigkeit bisher keine Sozialhilfe erhalten haben. Auf der Grundlage des BSHG wurde bei ihnen bislang davon ausgegangen, dass sie in der Haushaltsgemeinschaft unterhalten werden.
Die bedarfsorientierte Grundsicherung soll, wenn die Leistungen der Rentenversicherung dazu nicht ausreichen, den notwendigen Grundbedarf in einer pauschalierten Form abdecken, ohne dass Sozialhilfe in Anspruch genommen werden muss. Allerdings ist sie unter dem Gesichtspunkt der Verwaltungsvereinfachung eben auf eine solche pauschalierte Form beschränkt; eine einzelfallbezogene abweichende Bemessung des Regelsatzes ist im Rahmen der Grundsicherung nicht vorgesehen.
Die Leistungen der Grundsicherung werden ähnlich wie die Sozialhilfe berechnet: Zu dem Regelsatz erhält man einen Zuschlag von 15 Prozent für den pauschalierten einmaligen Bedarf, einen Mehrbedarfszuschlag von 20 Prozent bei einem Schwerbehindertenausweis mit den Merkzeichen G oder aG, die Aufwendungen für Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge entsprechend § 13 BSHG und die angemessenen tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung.
Problematisch ist hier insbesondere, dass der Regelsatzzuschlag von 15 % kein ausreichendes Äquivalent für die in vieler Hinsicht unter dem Leistungsniveau der Hilfe zum Lebensunterhalt (Sozialhilfe) zurückbleibenden Grundsicherungsleistungen darstellt. „Die Festlegung dieser Pauschale auf 15 % des Eckregelsatzes stützt sich zwar auf grobe Durchschnittswerte der Sozialhilfeausgaben, bildet aber bewusst nicht die differenzierten einmaligen Leistungen der Sozialhilfe ab (...).“ (Dietrich Schoch, Zur Umsetzung des Grundsicherungsgesetzes - Teil 1 -. In: info-also 'Informationen zum Arbeitslosen- und Sozialhilferecht' 4/2002, S. 161.)
Daraus kann eine Situation entstehen, in der diese zu niedrig bemessene Pauschale – angemessene Beratung, Aufklärung und Information der Bürger vorausgesetzt – in vielen Fällen dazu führt, dass ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt in Anspruch genommen wird. „Wird die ergänzende Sozialhilfe dagegen nicht in Anspruch genommen, führt diese (...) Regelung zur verstärkten Verfehlung des Gesetzeszwecks, für alte und für dauerhaft erwerbsgeminderte Menschen den grundlegenden Bedarf für den Lebensunterhalt durch die Grundsicherung zu erbringen sowie verschämte Armut zu verhindern.“ (Ebenda, S. 161.)
Zu den Leistungen der Grundsicherung zählen auch die erforderlichen Dienstleistungen, d.h. im Wesentlichen Beratung bei der Antragstellung. Nicht nur die Grundsicherungs-, sondern auch die Rentenversicherungsträger haben Dienstleistungen zur zielgruppenorientierten Beratung zu erbringen. Ob aber auch die Rentenversicherungs- wie die Grundsicherungsträger über ergänzende Sozialhilfe beraten werden und beraten können, ist mit einem Fragezeichen zu versehen.
Im BSHG liegt bzw. lag der Bedarfsdeckungsgrundsatz zugrunde: Inhalt und Umfang der Sozialhilfe sollen so beschaffen und bemessen sein, dass durch sie der sozialhilferechtliche Bedarf vollständig befriedigt werden kann;
Art, Form und Maß der Sozialhilfe richten sich gemäß § 3 Abs. 1 BSHG nach den Besonderheiten des Einzelfalls, vor allem nach der Person des Hilfeempfängers, der Art seines Bedarfs und den örtlichen Verhältnissen.
Umgesetzt wird dieser Bedarfsdeckungsgrundsatz im BSHG durch die Zugrundelegung von Regelsätzen, die von den Landesregierungen festgelegt werden und so bemessen sind, dass der so genannte Regelbedarf gedeckt werden kann (§ 22 Abs. 3 Satz 1 BSHG). Da diese Regelsätze aber einen Abstand zu den unteren Lohngruppen einhalten müssen (§ 22 Abs. 3 Satz 3 und Abs. 4 BSHG) und zudem – in Abhängigkeit von der Veränderung des Rentenniveaus – gedeckelt sind, wird damit die Anpassung an die tatsächlichen, statistisch ermittelten Verbrauchsausgaben von Haushalten doch relativiert. (Vgl.: Heribert Renn, Grundsicherung und Sozialhilfe. In: info-also 4/2002, S. 153 )
In § 22 Abs. 1 Satz 3 bestimmt aber das BSHG, dass die laufenden Leistungen zum Lebensunterhalt abweichend von den Regelsätzen zu bestimmen sind, so weit dies nach den Besonderheiten des Einzelfalles geboten ist: Ein erhöhter Ernährungsbedarf, regelmäßig anfallende Fahrtkosten zum Besuch eines Kindes, ein Sonderbedarf wegen einer Behinderung usw. können auf dieser Grundlage Gründe für einen individuellen Regelsatz werden.
Außerdem sieht das BSHG neben den laufenden Leistungen mit § 21 auch einmalige Leistungen vor, z.B. für die Reparatur von Bekleidung und Wäsche, die Beschaffung von Brennstoffen, Lernmittel für Schüler, die Instandsetzung von Hausrat und Wohnung, die Beschaffung von Gebrauchsgütern mit längerer Gebrauchsdauer und höherem Anschaffungswert oder für besondere Anlässe.
Diese Ansätze dazu, mit der Sozialhilfe doch den Besonderheiten des Einzelfalls gerecht werden zu können, sind aber bereits durch die weiten Ermessensspielräume eingeschränkt, die bei der Bewilligung der einmaligen Beihilfen gelten. Zudem wurde im Zuge von Gesetzesänderungen in den letzten Jahren immer mehr pauschaliert. (Vgl.: Sozialhilfebroschüre für Berlin und Brandenburg. Hrsg. v. Sozialhilfeberatung e. V., Berlin, S. 10 f.)
Im Gegensatz zu den Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem BSHG sind die Leistungen der Grundsicherung von vorneherein nicht als bedarfsdeckend konzipiert, liegen im Vergleich zur Sozialhilfe die folgenden Einschränkungen zugrunde (Vgl.: Heribert Renn, Grundsicherung und Sozialhilfe. a.a.O., S. 154.):
So kann also allerhöchstens wie im Titel des Gesetzes von einer „bedarfsorientierten“ Grundsicherung gesprochen werden. Das mit dem Grundsicherungsgesetz entstehende Existenzminimum wird demnach wohl
niedriger sein als das nach dem Bundessozialhilfegesetz, was wiederum weitere Kürzungen innerhalb des BSHG befürchten lässt.
Viele arme Menschen, insbesondere alte Menschen, die zu ihrer zu geringen Alters- oder Erwerbsunfähigkeitsrente noch Sozialhilfe beantragen könnten, tun dies bislang nicht. Sie wollen ihren Kindern bzw. Eltern nicht zur Last fallen, die bisher nämlich zum Unterhalt herangezogen werden. Das neue Grundsicherungsgesetz ändert eben dies: Unterhaltsansprüche von Antragsberechtigten gegenüber Kindern und Eltern bleiben unberücksichtigt, sofern deren jährliches Gesamteinkommen unter dem Betrag von 100.000 Euro liegt.
Zudem bietet das GSiG Menschen, die so schwer behindert sind, dass sie ihren eigenen Lebensunterhalt nicht sicherstellen können, und in einem Haushalt mit Verwandten oder Verschwägerten leben, ab Volljährigkeit einen eigenen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt. Im Rahmen der Grundsicherung wird nicht mehr wie nach § 16 BSHG vermutet, dass die Verwandten und Verschwägerten in einer Hausgemeinschaft Leistungen für die grundsicherungsberechtigte Person erbringen.
So wurde mit der Grundsicherung diesen Menschen und auch den in Werkstätten für Menschen mit Behinderung Beschäftigten erstmals die (finanzielle) Voraussetzung dafür eröffnet, allein oder in Gemeinschaft mit anderen zu wohnen und zu leben. In einer Erklärung der Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung vom 13.02.2001 wird das folgendermaßen bewertet: „Ein Grundsicherungskonzept, das sich von der starren Anwendung des § 16 BSHG verabschiedet, leistet einen ungemein wichtigen Beitrag zur Teilhabe behinderter Menschen am Leben in der Gemeinschaft.“
Wenn sich aber die Leistungen der Grundsicherung tatsächlich in vielen Fällen nicht als bedarfsdeckend erweisen, so wird dies eine Senkung der Armutsgrenze mit sich bringen. Und mit dem Vorantreiben von Pauschalierungen und dem Abbau der einmaligen Beihilfen, einer Tendenz, die im letzten Jahrzehnt bereits zahlreichen Gesetzesänderungen im Bereich der Sozialhilfe zugrunde lag, scheint das GSiG dahin zu zielen, die ursprünglich im BSHG verankerten Grundsätze der Bedarfsdeckung und der Besonderheit des Einzelfalls wieder ein Stück weiter abzuschaffen.
Zum Aufbau einer wirklich bedarfsgerechten sozialen Grundsicherung wäre dagegen Folgendes zu berücksichtigen: (Vgl.: ebenda, S. 156.)
In manchen Fällen wird es in Zukunft wohl zu einer Verschränkung von Grundsicherung und Sozialhilfe kommen, im Allgemeinen gibt es ab Anfang 2003 aber die Grundsicherung, die Rentenversicherung und die Sozialhilfe nebeneinander, ohne dass dies aber mit Mehrbelastungen für die kommunale Verwaltung verbunden sein soll. Im Hinblick auf den Personalbedarf und den Verwaltungsaufwand werden von Seiten der Regierungsparteien sogar Einsparungen erhofft: Die pauschalierte Auszahlung der einmaligen Leistungen und auch der Wegfall des Unterhaltsrückgriffs würden Verwaltungsvereinfachungen und damit Einsparungen mit sich bringen.
Wo aber diese Pauschalen zu niedrig bemessen sind und damit die Bedarfsdeckung nicht leisten können, werden viele Menschen weiterhin ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt in Anspruch nehmen müssen – oder mehr als bisher verarmen. Denn bei der Inanspruchnahme von ergänzenden Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt droht weiterhin die Prüfung der Unterhaltspflicht von Eltern oder Kindern.
Bei der Einrichtung der neuen Grundsicherungsämter sollte eine „Hausgemeinschaft“ von Grundsicherungs- und Sozialhilfeträger aus den folgenden Gründen (Vgl.: ebenda, S. 155.) vermieden werden:
Zuständig sind zum einen die neu eingerichteten Grundsicherungsträger in den Landkreisen und kreisfreien Städten, zum anderen die für die Rente zuständigen Versicherungsträger: in der Rentenversicherung der Arbeiter die Landesversicherungsanstalten, die Seekasse und die Brandversicherungsanstalt, in der Rentenversicherungsanstalt der Angestellten die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, in der knappschaftlichen Rentenversicherung die Bundesknappschaft und in der Alterssicherung der Landwirte die landwirtschaftlichen Alterskassen. Bei der Bundesvereinigung Lebenshilfe e.V. kann eine „Liste Beratungsmaterial Grundsicherung“ bestellt
werden: Bundeszentrale der Lebenshilfe, Vertrieb, Raiffeisenstraße 18, 35043 Marburg, Tel.: 06421/ 491-116. Im Internet unter: www.lebenshilfe.de „Recht und Sozialpolitik“. Der Bundesverband für Körper- und Mehrfachbehinderte e.V. hat ein „Merkblatt zur Grundsicherung“ herausgegeben, das in der Rubrik „Recht und Praxis“ von der Homepage www.bvkm.de als pdf-Datei heruntergeladen werden kann. Die gedruckte Version kann mit einem frankierten DIN-lang Rückumschlag (0,55 Euro) beim BVKM (Brehmstr. 5-7, 40239 Düsseldorf) bestellt werden.
Über Fragen in Zusammenhang mit dem neuen Gesetz informiert auch ein Ratgeber:
Albrecht Brühl/Albert Hofmann: Gesetz über eine bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung – Text, Erläuterungen und Informationen für Betroffene, Berater und Behörden, November 2001, 128 S., 12 € (in dem Preis sind die Versandkosten enthalten). Bezug über Albert Hofmann, Carl-Goerdeler-Str. 124, 60320 Frankfurt / M., Fax: 069/ 56 003 758; E-Mail: dr.ahofmann@t-online.de
Rainer Sanner