Ende November 2002 fand im Berliner Kleist-Haus zum Abschluss der ForseA-Kampagne „Für eine faire Assistenz“ die Tagung „Forderungen an ein Assistenzgesetz“ statt. Veranstalter war das Bündnis für selbstbestimmtes Leben Berlin. Das Anliegen der Kampagne ist ein auf Bundesebene neu zu schaffendes Assistenzgesetz: ein bedarfsdeckendes einkommens- und vermögens- sowie Standort unabhängiges steuerfinanziertes Leistungs- bzw. Nachteilsausgleichsgesetz in allen Lebensbereichen. Zentrales Ziel dabei ist, dass für Menschen mit Behinderung Selbstbestimmung und Teilhabe gesichert wird, sie bei der Organisation der Assistenz Personal-, Organisations-, Anleitungs-, Raum- und Finanzkompetenz gemäß ihrer Anforderungen und Fähigkeiten wahrnehmen können.
So geht es dabei zum einen um die Sicherung von Voraussetzungen für die individuelle Organisation von Assistenz; darüber hinaus muss aber auch der gesellschaftliche Hintergrund so verändert werden, dass echte Wahlmöglichkeiten entstehen: Innerhalb der gesellschaftlichen Strukturen, in denen Hilfe erbracht wird, müssen aussondernde Einrichtungen wie Heime ihren Vorrang verlieren, müssen diese zu Gunsten gemeindenaher Wohn- und Unterstützungsformen konsequent aufgelöst bzw. umstrukturiert werden.
Im Verlauf der Tagung wurde unter anderem diskutiert, wie sich Bedarfsgerechtigkeit nach Art und Umfang umsetzen lässt, wie dies auch für die konkrete Ausgestaltung des Gesetzestextes Gestalt annehmen kann:
Die unterschiedlichen Lebenssituationen behinderter Bürgerinnen und Bürger und deren Vorstellungen von Selbstbestimmung erfordern unterschiedliche Formen dessen, wie Assistenz erbracht werden soll.
Die in Form von Nachbarschaftshilfe erbrachte Assistenz eignet sich eher bei geringem Bedarf und hat den Vorteil, dass sie unkompliziert und flexibel gehandhabt werden kann. Da sie von den Kostenträgern als Instrument zur Kostensenkung benutzt wird, darf sie Assistenznehmern nicht gegen ihren Willen angetragen werden, dürfen die Stundensätze für Nachbarschaftshilfe nicht als Dumping in Bezug auf die Vergütung anderer Assistenzformen missbraucht werden.
Ambulante Dienste sollen den Assistenznehmern die Inanspruchnahme von Personal- und Anleitungskompetenz, sowie räumlicher und zeitlicher Kompetenz innerhalb der betriebstechnischen Möglichkeiten gewährleisten. Insofern eignen sie sich besonders für Assistenznehmer, denen die nötigen Kompetenzen nicht, noch nicht, bzw. nicht mehr in einem Umfang zur Verfügung stehen, der es ihnen ermöglicht, ohne Unterstützung ihre Assistenz zu organisieren, z.B. nach langjährigem Heimaufenthalt. Den Assistenznehmern soll ergänzend eine sozialarbeiterische Begleitung zur Umsetzung ihrer Selbstbestimmung und zur Erweiterung ihrer Kompetenzen angeboten werden.
Im Rahmen des Arbeitgebermodells stellt eine Assistenznehmerin bzw. ein Assistenznehmer die Assistenten direkt bei sich an. Man bekommt die dafür erforderlichen Gelder direkt in die eigene Hand und muss deren Verwendung gegenüber dem Kostenträger dokumentieren. Entstehende Überschüsse werden am Jahresende verrechnet.
Um größtmögliche Selbständigkeit und Selbstbestimmung zu sichern, muss es den einzelnen Assistenznehmern möglich sein, diese drei Formen frei zu kombinieren, sollten zudem vielfältige Formen von Beratung, Unterstützung und Begleitung (z.B. Probewohnen, Enthospitalisierung) angeboten werden.
Im Hinblick auf die Bedarfsermittlung sollen die assistenzbedürftigen Bürger selbst aktiv im Mittelpunkt stehen, indem sie, gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit unabhängigen Fachleuten (z.B. Beratungsstellen oder Hausärzte) ihren Bedarf selbst ermitteln. Eine daran anschließende Bedarfsprüfung durch das Amt muss nicht unbedingt in eine Begutachtung münden. Wo dies doch der Fall ist, müssen die Begutachter gegenüber den Kostenträgern, den Assistenznehmern und den Anbietern von Assistenzleistungen neutral sein.
Wichtig ist auch, dass mit einem Assistenzgesetz der Rahmen dafür geschaffen werden soll, dass der Assistenzbedarf nicht nur unter medizinisch-pflegerischen Kriterien ermittelt werden darf, dass dabei vielmehr die
Befähigung zu Selbstbestimmung und gleichberechtigter Teilhabe am öffentlichen Leben im Mittelpunkt
stehen soll. Die Begutachter sollten deshalb sozial-arbeiterisch ausgebildet sein und zudem bezüglich Assistenz geschult sein. Dahingehende Schulungen sollten von Organisationen durchgeführt werden, die gegenüber den Kostenträgern unabhängig sind.
Ein plötzlich auftretender Mehrbedarf (z.B. bei physiotherapeutischen Behandlungen, bei Erkrankungen oder bei Reisen) muss unkompliziert und zügig bewilligt werden. Wiederholte Begutachtungen sollten aber, abgesehen von Anträgen wegen erhöhten Bedarfs, nur in Fällen erfolgen, bei denen die Erlangung einer größeren Selbständigkeit bei gleichzeitig weniger Assistenz eine Perspektive hat (z.B. innerhalb einer mehrjährigen Rehabilitation oder bei sehr langsam ausheilenden Krankheitsverläufen).
Bei den Begutachtungen muss zudem die besondere Situation von alten Menschen, von assistenzbedürftigen Kindern und Jugendlichen sowie von Assistenznehmerinnen, die Kinder haben, berücksichtigt und dem individuellen Bedarf entsprechend berücksichtigt werden.
Rainer Sanner
Am 29./30. April 2003 findet zu diesem Thema eine bundesweite Veranstaltung in Mainz statt. Weitere Informationen dazu und zu detaillierten Forderungen sind unter www.forsea.de zu finden (d. Red.).