Würzburg (kobinet) Dr. Adolf Ratzka kennt sich in der Welt aus. In Deutschland aufgewachsen, in den USA studiert und heute in Schweden mit seiner Frau und Adoptivtochter lebend, streitet er seit vielen Jahren für die Selbstbestimmung behinderter Menschen. Er war im Rahmen seines Engagements mit der Stockholmer Cooperative für ein selbstbestimmtes Leben Behinderter entscheidend an der Formulierung und Verabschiedung des schwedischen Assistenzgesetzes von 1994 beteiligt. Kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul sprach mit Dr. Adolf Ratzka während seines Besuches in Deutschland am Rande einer Veranstaltung in Würzburg:
kobinet-nachrichten: Herr Dr. Ratzka, zum Thema Assistenz hat sich in den letzten Jahren in Schweden viel getan. Was sind dabei die wichtigsten Schritte?
Dr. Adolf Ratzka: Seit 1994 gibt es eine staatliche Assistenzreform, das heißt das Geld kommt nicht wie früher von den Gemeinden, sondern vom Zentralstaat: Man kann also hinziehen in Schweden, wo man will, ohne von der Gemeinde abhängig zu sein. Das ist für uns eine riesige Erleichterung. Denn früher war man von den wirtschaftlichen Prioritäten der Gemeinden abhängig, die laut Gesetz dafür verantwortlich waren. Das ist ein großer Unterschied. Dieses Geldleistungssystem ist für Schweden noch sehr neu, weil die Gemeinden alles auf der Basis von Sachleistungen regeln. Mit diesen Geldleistungen können nun die Einzelnen je nach Wunsch ihre Dienstleistungen von der Gemeinde kaufen, was die meisten auch machen, aber immer mehr Leute kaufen ihre Dienstleistungen von Firmen, organisieren sich in Assistenzbenutzergenossenschaften oder benutzen das in Deutschland bekannte Arbeitgebermodell und werden selbst Arbeitgeber. Man kann auch jede mögliche Kombination von diesen verschiedenen Lösungen selbst wählen. Der Grundtenor ist, wir sind Kunden und nicht mehr Patienten.
kobinet-nachrichten: Hat das dazu geführt, dass mehr Leute aus Einrichtungen ausgezogen sind?
Dr. Adolf Ratzka: Ja, da muss ich erst vorausschicken, dass es eigentlich für Körperbehinderte seit 1994/95 keine Einrichtungen im klassischen Sinne mehr gab, es gab eher betreutes Wohnen, was ich natürlich auch als Einrichtung bezeichnen würde und die Zahl der betreuten Wohnungen hat sich jedenfalls nicht vergrößert, soweit es mir bekannt ist, weil jetzt die Leute ´rausziehen´ können. Man muss auch noch dazu sagen, dass die Zahl der rollstuhlgerechten Wohnungen in Schweden wahrscheinlich um einiges höher ist als in Deutschland. Dies ist so, weil seit 1978 die Baunormen vorschreiben, dass in Mehrfamilienhäusern von mehr als zwei Stockwerken alle Wohnungen, nicht nur im Erdgeschoss, sondern auch anderswo, rollstuhlgerecht gebaut werden müssen. Wir haben also zum Beispiel in Stockholm etwa acht Prozent des Wohnungsbestandes rollstuhlgerecht. Damit ergeben sich natürlich viel bessere Möglichkeiten mit Hilfe von persönlicher Assistenz, die ja flexibel ist und ja mir nachfolgt, eine Wohnung zu finden, von daher ist eine Heimunterbringung nicht mehr aktuell.
kobinet-nachrichten: Welche Veränderungen hat das Assistenzgesetz für Menschen mit so genannter geistiger Behinderung gebracht oder ist es ein Gesetz, das nur für Körperbehinderte greift?
Dr. Adolf Ratzka: Menschen mit einer so genannten geistigen Behinderung sind auch im Gesetz berücksichtigt worden, nur muss man dazu sagen, dass viele Menschen, die diesem Personenkreis zuzuordnen sind, eher in Wohngemeinschaften leben, in denen zum Beispiel bis zu sechs Personen leben und jeder sein eigenes Zimmer hat. Zudem gibt es dort meist Gemeinschaftsräume und auch Räume für das Personal. Das Gesetz sieht diese Lösung für diesen Personenkreis vor. Leider sind viele Gemeinden dem noch nicht nachgekommen und es gibt Gerichtsfälle, bei denen die Gemeinden Strafe zahlen müssen, weil sie noch immer keine Wohnungen für Menschen bereit gestellt haben, die einen gesetzlichen Anspruch darauf haben.
kobinet-nachrichten: Also die Höchstgrenze liegt bei maximal sechs Personen in Gruppen, in denen Menschen mit einer so genannten geistigen Behinderung untergebracht werden sollten?
Dr. Adolf Ratzka: Ich bin jetzt überfragt, ob es die Höchstgrenze ist, aber es ist eine bekannte Größe.
kobinet-nachrichten: Es hat ja bestimmt auch eine ganze Menge Veränderungen in den Einrichtungen in Schweden gegeben, das hat sicherlich auch viele zu Reformen gezwungen. Welche Prozesse haben dabei eine Rolle gespielt und welche waren die wichtigen Faktoren, dass diese Veränderungen vorgenommen werden konnten?
Dr. Adolf Ratzka: Wie ich schon sagte, gab es für Körperbehinderte ja keine richtigen Einrichtungen mehr.
Für Menschen mit Lernschwierigkeiten wurden die letzten Einrichtungen in den 70er Jahren niedergelegt und die Leute zogen in kleine Wohngemeinschaften um.
kobinet-nachrichten: Wenn Sie Schweden in einer europäischen Perspektive betrachten, welche Trends sind sichtbar, die auch auf Deutschland wirken? Also was passiert dort zur Zeit im Behindertenbereich? Geht der Trend eher dahin, was Sie in Schweden vollzogen haben oder ist es eher ein ganz anderer Trend, der sich in Europa abzeichnet?
Dr. Adolf Ratzka: Den europaweiten Trend sehe ich eher stark von außen geprägt, der geht eigentlich von Nordamerika mit der Bürgerrechtsbewegung Behinderter aus, die sich auch bei uns ausbreitet. Und ich glaube, durch den Eintritt in die EU hat auch Schweden Zugang zu dieser Bewegung bekommen, dass ist wie gesagt etwas unschwedisches, Bürgerrechte haben wir nicht gebraucht, wir sind alle so solidarisch, wenn ich das einmal etwas sarkastisch ausdrücken darf. Wir machen das ja auch freiwillig. Wir wurden ja nicht gezwungen in diesem Sinne zu handeln. So setze ich meine Hoffnung besonders auf diese Bürgerrechtsbewegung, denn vor allem auch in Schweden ist sie sehr notwendig, denn wir haben immer noch kein Gleichstellungsgesetz für Behinderte wie in der Bundesrepublik. Was wir haben ist ein Antidiskriminierungsgesetz am Arbeitsplatz, das noch ganz ungeprüft ist und noch ziemlich neu. Wir haben ein Gesetz, das Diskriminierung von Studenten an den Hochschulen verbietet, aber das ist auch schon alles. Wir haben 1979 ein Gesetz bekommen, das den barrierefreien Zugang zu allen kollektiven Verkehrsmitteln gewährleisten soll. Bis 1990 sollte alles angepasst sein, passiert ist absolut nichts, weil wir uns in der klassischen Tradition bewegt haben. Man hat keine Definition und keine Standards gehabt und vor allem keine Sanktionen. Diese Anpassung war wahrscheinlich nie ernsthaft gemeint, also reiner Zynismus und hat uns mehr geschadet als genutzt.
kobinet-nachrichten: In Deutschland stehen wir vor vielen Herausforderungen - wir haben noch viele Großeinrichtungen, noch über 120.000 Menschen mit einer so genannten geistigen Behinderung oder Mehrfachbehinderungen leben in solchen Einrichtungen, viele nicht mal im Einzelzimmer. Wenn Sie jetzt hier in Deutschland die Behindertenpolitik voran treiben müssten, was würden Sie empfehlen, welche Schritte wären nötig, um hier ähnliche Reformen wie in Schweden zu erreichen?
Dr. Adolf Ratzka: Zuerst müssten barrierefreie Wohnungen und diese nicht nur im sozialen Wohnungsbaubereich, sondern überall per Gesetzgebung geschaffen werden. Das kostet bekanntlich nicht mehr, wenn sie schon von Anfang an barrierefrei konzipiert werden. Das wäre das erste, das zweite diesen ganzen Filz, diese Wildnis, diesen Dschungel von verschiedenen Kostenträgern für persönliche Assistenz müsste man abbauen und ersetzen durch etwas einfacheres, wo das Geld dem einzelnen folgt, unabhängig, ob er sich in irgendeiner Einrichtung oder in der freien Wildnis befindet. Damit könnte man wahrscheinlich mehr tun. Das wäre wahrscheinlich das Beste, um die Einrichtungen abzubauen. Die Notwendigkeit der Einrichtungen, die es jetzt noch aus Mangel an Alternativen gibt.
kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das
Interview.