Die letzte Psychiatrie-Enquete hat bewirkt, dass viele der großen psychiatrischen Einrichtungen in Akutpsychiatrien umgewandelt wurden, die wir nur allzu oft als Zwangs- und Verwahrpsychiatrien erlebt haben. Viele der großen Einrichtungen wurden aufgelöst. Die neu entstandenen kleinen Psychiatrien wurden als Mittelpunkt des Gemeindepsychiatrischen Verbundes an die Krankenhäuser der Landkreise angegliedert. Dies bedeutet für uns Betroffene, in unseren Städten und Gemeinden verbleiben zu können. Dazu trägt auch bei, dass in der Gemeindepsychiatrie eine Palette von niederschwelligen psychiatrischen Angeboten geschaffen wurde.
Der Abbau von Langzeitstationen in den großen Psychiatrien hatte leider eine Welle von psychiatrischen Heimbauvorhaben in den Gemeinden zur Folge. Der schon in der letzten Psychiatrie-Enquete geforderte Paradigmenwechsel „Ambulant vor Stationär“ wurde nicht vollzogen. 97% aller Mittel zur Wiedereingliederung der psychisch kranken Menschen gehen in den stationären Bereich. Nur die restlichen 3% kommen dem ambulanten Bereich zugute. Durch eine solche Finanzierung werden die Träger von gemeindepsychiatrischen Einrichtungen allem Anschein nach dazu verleitet, unnötig viele Langzeit-Heimschicksale zu produzieren.
Unsere Beobachtungen: Anstatt die Betroffenen zu befähigen, selbstständig, alleine oder in kleinen Wohneinheiten an dem Leben in der Stadt und Gemeinde teilzunehmen, werden sie in Großheimen gettoisiert und isoliert. Dabei sollten die Betroffenen befähigt werden, sich zu integrieren, z. B. in der Stadt und auf dem Lande in bestehende Sport- und Gesangsvereine sowie in Kirchengemeinden. Und immer noch werden die Probleme unserer erkrankten Mitmenschen mit Medikamenten angegangen, eine Heranführung an Psychotherapie unterbleibt. Heute leben diese ausgegrenzten Psychiatrie-Erfahrenen in einer Subkultur fern der Gemeinderealität: Heim, WfBM, Tagestätte sowie psychiatrische Ambulanz heißt die einzige Option. Dabei ist es keinesfalls üblich, dass nur Menschen aus dem nahe gelegenen Umfeld und aus dem eigenen Landkreis in ein Heim aufgenommen werden. Zudem werden auffällige Heimbewohner in ein anderes weit entferntes Heim abgeschoben. Das sollte strikt verboten werden. Circa 25 Prozent aller Heiminsassen haben nach der Bielefelder Studie „Menschen in Heimen“ eine solche Odyssee hinter sich.
Leider machen wir die Erfahrung, dass durch Einsparungen im Gesundheitswesen der Kostendruck auf die Psychiatrien steigt. Dies hat zur Folge, dass bei einer Erstvorstellung nicht auf die Auslöser der Erkrankung eingegangen wird und der Hinweis auf eine weiterführende psychotherapeutische Begleitung unterbleibt. Stattdessen werden nur die Symptome mit der vermuteten richtigen Dosierung psychopharmakologisch unterdrückt. Wenn es dann zu mehreren Vorstellungen in der Klinik kommt, die Angehörigen obendrein überlastet sind, folgt oft eine Heimeinweisung mit der Begründung, dass der Mitmensch angeblich weder lebenstüchtig noch alltagstauglich sei.
Für den ambulanten Wohnbereich kommt er nicht in Frage, da er durch einen Betreuungsschlüssel in der Regel 1 zu 12 nicht die engmaschige Hilfe bekommt, die er in dieser Lebenssituation benötigt. So werden Heimschicksale geschaffen, die nicht selten in jungen Jahren beginnen und im Altenpflegeheim enden. Wir wollen nicht, dass nur von dem schweren volkswirtschaftlichen Schaden gesprochen wird. Im Vordergrund steht das Leid der Betroffenen. Wir wollen, dass darüber gesprochen wird, was es heißt, im Heim zu leben. Nämlich z.B. davon, dass durch das Zusammentreffen von Menschen mit den verschiedensten Krankheitsbildern unzählige Konflikte entstehen, zu deren Lösung hohe Dosen von Neuroleptika eingesetzt werden. Jeder, der diese Medikamente kennt, weiß um deren Nebenwirkungen, die häufig gravierend die Lebensqualität beeinflussen. Konflikte können diese nicht lösen. Eine Heimunterbringung nutzt aus unserer Sicht nur den Interessen der Trägervereine und -verbände. Wir Psychiatrie-Erfahrenen lehnen eine Heimunterbringung ab. Am Beispiel der skandinavischen Länder lässt sich zeigen, dass man fast ohne Heime auszukommen vermag.
Als Skandal sehen wir es an, dass immer mehr junge Erwachsene aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie automatisch in die Heime für Erwachsene überwiesen werden. Das bedeutet: ein Leidensweg von der Kindheit bis zum Altersheim ist vorprogrammiert. Statt zur Lebenstüchtigkeit mit oder ohne Handicap zu verhelfen, werden chronische Hospitalisierung und irreversible gesundheitliche Schäden in Kauf genommen. Zudem halten wir die jetzige Form der Kinder- und Jugendpsychiatrie als dringend überprüfungswürdig. Jeder psychiatrisch erkrankte Mensch sollte das Recht haben und die Möglichkeit erhalten, durch geeignete Therapien gesund und leistungsfähig zu werden. Psychopharmaka sind da ungeeignet, denn sie heilen nicht, sondern mildern die Symptomatik.
Deshalb fordern wir geeignete Therapien, die jedem vor allem bei einer Ersterkrankung uneingeschränkt zur Verfügung stehen sollten. Sollte sich doch ein chronisch verlaufender Leidensweg ergeben, so ist es unabdingbar, dass im ambulant betreuten Wohnen in dezentralen Wohnformen eine ausreichende Anzahl von Sozialpädagogen, Pflegekräften und hauswirtschaftlichen Mitarbeitern in einem Mitarbeiterpool zur Verfügung stehen. Neben der Hilfe zur Wiedereingliederung muss im Betreuten Wohnen auch die Hilfe zur Pflege zur Verfügung stehen. Diese Arbeit könnte u. a. von dem Netz der kommunalen Sozialstationen übernommen werden. Bis jetzt ist eine mangelhafte personelle Ausstattung des Betreuten Wohnens ein Fakt, um den Angehörige und Psychiater wissen. Dem muss mit einer absoluten Stärkung des Betreuten Wohnens Rechnung getragen werden. Der Betreuungsumfang hat sich am Betreuungsbedarf des Patienten zu orientieren.
In vielen Heimen gibt es Mehrbettzimmer. Die Bewohner können sich ihren Mitbewohner nicht aussuchen. Sie können sich auch die Wohngemeinschaft nicht aussuchen und sind so in einer Zwangsgemeinschaft vereint. Da solche Gemeinschaften über Jahre bestehen, fordern wir für jeden Bewohner ein Einzelzimmer mit eigenem Schlüssel, WC und Nasszelle. Da das Zimmer nicht nur zur Nachtruhe gebraucht wird, sollte es nicht kleiner als 16 qm ohne WC und Nasszelle sein.
Jedes Heim soll sich einer ständigen Qualitätskontrolle unterwerfen, bei der nicht Sauberkeit im Vordergrund steht, sondern das Wohlbefinden der Bewohner. Die Formel „Sauber, satt und ruhig“ darf nicht mehr gelten. Die Qualitätskontrolle soll von externen psychiatrischen Fachkräften, dem Heimbeirat, enthospitalisierten ehemaligen Heimbewohnern und den Angehörigen durchgeführt werden. Jeder Heimbewohner soll ständig die Möglichkeit haben, in eine ambulante Lebensform integriert zu werden. Außerdem muss jeder Heimbewohner die Möglichkeit haben, einen niedergelassen Arzt oder eine psychiatrische Ambulanz seiner Wahl aufzusuchen. Jedem Heimbewohner sollte eine niederschwellige und unbürokratische Beschwerdeeinrichtung bei einem der Kostenträger zur Verfügung stehen. Jedes Heim sollte verpflichtet sein, seinen Bewohnern den Kontakt zu einem Patientenanwalt oder einer Beschwerdestelle zu gewährleisten.
Wir bitten Sie, sich den geschilderten Problemen anzunehmen. Auf eine Rückmeldung freuen wir uns.
Klaus Laupichler (Am Alten Sportplatz 10, 89542 Herbrechtingen)
Mitglied des geschäftsführenden Vorstandes des BPE e.V./Schwerpunkt Heime
(Klaus Laupichler ist auch Mitglied im NETZWERK ARTIKEL 3)