Einleitung zum Behindertengleichstellungsgesetz und den Ländergleichstellungsgesetzen
(Horst Frehe)

I. Entwicklung und Einordnung

Nach der Aufnahme des Benachteiligungsverbotes wegen einer Behinderung in das Grundgesetz 1994 (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG), folgte eine intensive Diskussion um ein Antidiskriminierungsgesetz für Behinderte. Obwohl im rotgrünen Koalitionsvertrag von 1998 die Schaffung eines Gleichstellungsgesetzes für behinderte Menschen vereinbart war, entwickelte das Bundesministerium für Justiz zunächst keine Aktivitäten ein solches Gesetz zu schaffen. Mit dem Entwurf eines Antidiskriminierungsgesetzes des "Forums behinderter Juristinnen und Juristen" (FbJJ) vom 14. Januar 2001, der von dem Behindertenbeauftragten der Bundesregierung aufgegriffen wurde, belebte sich die Diskussion um ein Behindertengleichstellungsgesetz. Der Entwurf umfasste sowohl Vorschriften zum Diskriminierungsverbot, zur Barrierefreiheit, zum Verfahrensrecht als auch zum diskriminierungsfreien Privatrechtsverkehr. Noch zu Beginn des gleichen Jahres setzte die Bundesregierung eine Arbeitsgruppe unter Beteiligung des Forums beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA) ein, die innerhalb nur eines Jahres einen Entwurf für den öffentlich-rechtlichen Teil als Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes (BGG-Bund) vorlegte. Das BGG-Bund wurde im gleichen Jahr in den Bundestag eingebracht und trat im Mai 2002 in Kraft.

Wesentliche Rechtsmaterien, die über die Gleichstellung behinderter Menschen entscheiden, entzogen sich jedoch einer bundesgesetzlichen Regelung, wie etwa das Bauordnungsrecht, das Recht von Kindertagesstätten, das Schulrecht, das Hochschulrecht oder das Recht psychisch kranker Menschen. Diese Regelungen liegen im Bundesstaat ganz oder überwiegend in der Gesetzgebungskompetenz der Länder. Ebenso verpflichteten die Vorschriften des BGG-Bund zum Benachteiligungsverbot und zur Barrierefreiheit nur Bundesbehörden. Bund und Länder kamen daher überein, in Ergänzung des BGG-Bund in den Ländern zügig entsprechende Landesgleichstellungsgesetze zu schaffen. Neben den entsprechenden Formulierungen zur Verpflichtung der Landesbehörden, sollten dort die Rechtsbereiche in Landeskompetenz geregelt werden. Berlin hatte bereits im Mai 1999 ein Landesgleichberechtigungsgesetz (LBGB-Berlin) und Sachsen-Anhalt im November 2001 ein Behindertengleichstellungsgesetz (LGStGB-LSA) erlassen. Nach dem BGG-Bund folgten 2002 die Länder Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz, 2003 Bayern, Brandenburg, Bremen, Nordrhein-Westfalen und Saarland, 2004 Hessen und Sachsen, 2005 Baden-Württemberg, Hamburg und Thüringen, 2006 Mecklenburg-Vorpommern und 2007 Niedersachsen.

II. Wesentlicher Inhalt

Das BGG-Bund hat das Ziel, Benachteiligungen behinderter Menschen zu verhindern und zu beseitigen, ihre gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu gewährleisten und ihre selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen. Die tatsächliche Gleichstellung behinderter Frauen soll auch durch spezifische Förderung erreicht werden. Mit den Legaldefinitionen von Behinderung und Barrierefreiheit wird grundsätzlich ein inklusiver Ansatz verfolgt, der Behinderung vor allem an den behindernden und ausschließenden Bedingungen der sozialen und gestalteten Umwelt festmacht. Zur Barrierefreiheit gehört danach nicht nur die Beseitigung baulicher Barrieren, sondern auch der kommunikativen Einschränkungen für sehbehinderte, oder hörbehinderte Menschen. ‘Leichte Sprache’ für Menschen mit Lernschwierigkeiten, wurde noch nicht ausdrücklich als Anforderung an Barrierefreiheit definiert. Die deutsche Gebärdensprache (DGS) wird als eigenständige Sprache, die lautsprachbegleitenden Gebärden werden als Sprachform anerkannt. Kern des Gesetzes sind die Verpflichtungen der Träger öffentlicher Gewalt des Bundes zur Herstellung der Barrierefreiheit und das Benachteiligungsverbot. Die Pflichten zur Barrierefreiheit betreffen die Gebäude und Verkehrsanlagen des Bundes, die Verwendung der Gebärdensprache und anderer Kommunikationshilfen, die Gestaltung von Bescheiden und Vordrucken sowie die Internetnutzung. Diese Verpflichtungen wurden durch Verordnungen konkretisiert. Darüber hinaus wurden im Zuge des BGG die barrierefreie Gestaltung des öffentlichen Personennahverkehrs das Personenbeförderungsgesetz (PBefG), die Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung (EBO) sowie das Luftverkehrsgesetz novelliert. Das Gaststättenrecht und des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz sind nach der Reform der bundesstaatlichen Ordnung 2006 in alleinige Kompetenz der Länder übergegangen, die Regelungen des Bundes treten außer Kraft, wenn die Länder davon Gebrauch gemacht gaben. Mit der Prozessstandschaft und einem Verbandsklagerecht für Verbände behinderter Menschen soll die Rechtsdurchsetzung erleichtert werden. Weitere Wahlrechts- und verfahrensrechtliche Regelungen in anderen Gesetzen sollen Benachteiligungen abbauen. Mit den Zielvereinbarungen sollen Unternehmen Vereinbarungen zur Herstellung der Barrierefreiheit mit den Behindertenverbänden schließen. Von dieser Möglichkeit wurde bisher nur in geringem Ausmaß Gebrauch gemacht.

Das vor dem BGG-Bund erlassene Berliner Landesgleichberechtigungsgesetz (LBGB-Berlin) enthält eine eigene Diskriminierungsdefinition. Diskriminierung wird als ungerechtfertigte Ungleichbehandlung, die in mittelbarem oder unmittelbarem Zusammenhang mit der Behinderung steht, bestimmt. Die Regelung richtet sich auch an Private. Darüber hinaus Enthält das LBGB-Berlin konkrete Regelungen zum öffentlichen Personennahverkehr, zu Fahrdiensten für Menschen mit Behinderung, Unterricht und Gebärdensprachdolmetscher. Dagegen besteht das Gesetz für Chancengleichheit und gegen Diskriminierung behinderter Menschen in Sachsen-Anhalt (LGStGB-LSA) neben dem Diskriminierungsverbot im Wesentlichen aus Leitlinien für die Gestaltung sozialer Angebote, der Einrichtung eines runden Tisches und der Verankerung der Behindertenbeauftragten auf den Ebenen des Landes und der Kommunen ohne konkrete rechtlich verpflichtende Regelungen zur Barrierefreiheit.

Die Landesgesetze, die nach dem BGG-Bund erlassen wurden, übernehmen im Wesentlichen wortgleich die allgemeinen Bundesregelungen. Als Besonderheit enthält das BGG-SH eine Änderung des Schulgesetzes, die Schulen für Hörgeschädigte verpflichtet, Unterricht in Gebärdensprache und lautsprachbegleitenden Gebärden zu erteilen und ermöglicht dieses im gemeinsamen Unterricht mit hörenden Schülerinnen und Schülern (§ 25 Abs. 7 SchulG-SH). Das BGG-HH verpflichtet durch die Änderung der Verordnung über die Erste Staatsprüfung Lehrerinnen und Lehrer der Gehörlosenpädagogik zum Erlernen der Gebärdensprache. Das BGG-Bayern enthält für den öffentlichen Personennahverkehr neben der Barrierefreiheit neu beschaffter Anlagen und Fahrzeuge, auch eine Verpflichtung zur Nachrüstung im Rahmen des technisch und wirtschaftlich Möglichen. Eine ähnliche Vorschrift zur nachträglichen Herstellung der Barrierefreiheit wurde durch Änderung des Nahverkehrsgesetzes-RP in Rheinland-Pfalz geschaffen (§ 3 Abs. 7 NVG-RP). Das BGG-HB sieht einen parlamentarischen Landesbehindertenbeauftragten vor. Im BGG-HS ist die Verpflichtung des Hessischen Fernsehens zur Untertitelung und Bildbeschreibung der Filme vorgesehen. Das BGG-Sachsen sieht eine Sonderregelung im Abgeordnetengesetz bei Abstimmungen für Abgeordnete im Landtag vor. Im BGG-Th befindet sich ein eigenes Gleichstellungsgebot, das auch einen Anspruch auf gleichgeschlechtliche Pflege umfasst (§ 8 BGG-Th).

III. Durchsetzbarkeit

Zur Durchsetzung des Benachteiligungsverbotes im BGG-Bund ist der Rechtsweg zu den Verwaltungs- oder Sozialgerichten gegeben. Dabei kann sich der behinderte Mensch durch Rechtsanwälte oder Behindertenverbände vertreten lassen. Dieses gilt auch für die BGG der Länder. Im Rahmen der Prozessstandschaft (§ 12 BGG) kann auch ein verbandsklageberechtigter Verband (§ 13 Abs. 3 BGG) individuelle Ansprüche mit Einverständnis der betroffenen Person geltend machen. Wird kein subjektives Recht verletzt - wie bei der Verpflichtung zur Barrierefreiheit - oder handelt es sich um eine Angelegenheit von allgemeiner Bedeutung (§ 13 Abs. 2 BGG) kann ein verbandsklageberechtigter Behindertenverband (§ 13 Abs. 3 BGG) gegen die Verletzung der Barrierefreiheit oder des Benachteiligungsverbotes vorgehen. Die klagebefugten Tatbestände sind dort abschließend aufgezählt. Bei der Verbandsklage ist die Klagebefugnis erst nach einem Vorverfahren zulässig und als Feststellungsklage ausgestaltet. Damit kann der Verstoß zwar festgestellt, die Verwaltung aber nicht direkt zur Beseitigung verpflichtet werden. Es ist jedoch anerkannt, dass die öffentliche Verwaltung die durch Feststellungsklagen festgestellte Rechtslage umfassend zu respektieren hat.

Fast alle Bundesländer - mit Ausnahme von Thüringen, das nur die Prozessstandschaft kennt - verfügen in ihren BGG über Vorschriften zur Verbandsklage, die meisten auch über eine zur Prozessstandschaft. Sie umfasst in einigen Ländern auch landesrechtliche Vorschriften zur Barrierefreiheit außerhalb des Landes-BGG wie z.B. Landesbauordnung, Schulgesetze, Landestraßengesetze, Gaststättengesetze und -verordnungen. In allen BGG der Länder sind Regelungen zum Landesbehindertenbeauftragten und/oder zu Behindertenbeiräten enthalten. Deren Zuordnung und Rechtsstellung sind aber sehr unterschiedlich. Am weitesten geht die Stellung des Landesbehindertenbeauftragten als unabhängiger parlamentarischer Beauftragter der Bremischen Bürgerschaft in Bremen, die erst 2008 eingeführt wurde.

Nach oben

Zurück zum Inhaltsverzeichnis