Einleitung
Freiheits- und Schutzrechte
(Julia Zinsmeister)

I. Entwicklung und Einordnung

Das Risiko behinderter Menschen, Opfer krimineller Handlungen zu werden, wird durch verschiedene Faktoren erhöht: Erstens gehören (sichtbar) behinderte Menschen zu den Zielgruppen vorurteilsbedingter Gewaltstraftaten (sog. Hasskriminalität). Zweitens leben manche Menschen mit besonders hohem Unterstützungsbedarf bis ins Erwachsenenalter in Abhängigkeitsverhältnissen und können in ihrem sozialen Nahraum vermehrt mit Machtmissbrauch in Form von Vernachlässigung, Freiheitsberaubung, körperlicher und sexueller Gewalt konfrontiert sein. Das gilt sowohl für den häuslichen Bereich, als auch für die Einrichtungen der Rehabilitation und Pflege. Drittens wird bei behinderten und alten Menschen generell vermutet, sie seien hilflos und wehrlos. Das macht sie in den Augen potentieller Straftäter zu leichten und damit auch bevorzugten Opfern.

II. Wesentlicher Inhalt

Nehmen Diskriminierungen ehrverletzende Formen an, können sie auf Antrag als Beleidigung, Verleumdung oder üble Nachrede verfolgt werden (§§ 185 ff. StGB). Gewalttätige Angriffe erfüllen den Straftatbestand der Körperverletzung §§ 223 ff. Strafgesetzbuch (StGB). Eine mangelhafte pflegerische Versorgung behinderter Menschen (z.B. ungenügende Dekubitusprophylaxe oder Wundversorgung) kann den Verdacht einer strafbaren Körperverletzung ebenso begründen wie die Vergabe von Medikamenten an einwilligungsfähige Menschen ohne deren Wissen. Dies ist insbesondere bei der prophylaktischen Verordnung und Verabreichung von Kontrazeptiva an Frauen mit der Diagnose einer geistigen Behinderung zu beachten.
Wer Menschen durch Sedierung, Fixierung oder andere mechanische oder technische Vorrichtungen in ihrer Bewegungsfreiheit beschränkt, bedarf hierzu einer vormundschaftsgerichtlichen Genehmigung. Anderenfalls läuft er Gefahr, sich nach § 239 StGB strafbar zu machen. Das bewusste Quälen, die rohe Misshandlung oder grobe Vernachlässigung hilfebedürftiger Menschen kann als Misshandlung von Schutzbefohlenen (§ 225 StGB) verfolgt werden.
Die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung lassen sich grob in zwei Deliktsgruppen unterscheiden: Vergewaltigung und sexuelle Nötigung (§ 177 StGB) einerseits sowie die verschiedenen Formen des sexuellen Missbrauchs von Abhängigen (Kindern, Schutzbefohlenen, Heimbewohnern, Klienten in der Behandlung, Beratung oder Therapie, Widerstandsunfähigen) andererseits. Menschen mit der Diagnose einer geistigen Behinderung werden häufig rechtsirrig als widerstandsunfähig im Sinne des § 179 StGB qualifiziert. Widerstandsunfähig sind aber nur diejenigen, die aufgrund ihrer Behinderung keinen zur Abwehr ausreichenden Willen bilden können. Wer einen Abwehrwillen hat, sich aber aus Angst, mangelnden Vertrauen in die eigene Kraft nicht wehrt oder aufgrund seiner Behinderung hierzu körperlich nicht in der Lage ist, ist nicht widerstandsunfähig (BGH NStZ 2000, S.140 ff.), sondern lediglich in seiner Widerstandsfähigkeit eingeschränkt. Bis 1998 waren sexuelle Handlungen nur als Vergewaltigung oder sexueller Nötigung strafbar, wenn der Täter das Opfer hierzu mit Gewalt oder Drohungen mit einer Gefahr für Leib oder Leben nötigte. Sexuelle Handlungen mit einem Menschen, der nur "nein" sagt, sich im übrigen aber dem Täter nicht widersetzt und deshalb von ihm nicht in solch massiver Form genötigt werden muss, sind generell straflos. Seit 1998 hat das Gericht in einem solchen Fall aber zu prüfen, ob sich die Opfer nicht wehrten, weil sie sich in einer schutzlosen Lage befanden. In einer schutzlosen Lage befindet sich u.a., wer vor Angst erstarrt oder aufgrund behinderungsbedingter Einschränkungen zur Gegenwehr nicht imstande ist. Nutzt ein Täter diese schutzlose Lage für sexuelle Handlungen aus, kann er sich wegen Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung im Sinne des § 177 StGB strafbar machen. Darüber hinaus hat der Gesetzgeber die Strafbarkeit des sexuellen Missbrauchs in stationären Einrichtungen, in der Beratung, Behandlung, Betreuung und Therapie ausgeweitet. Wegen sexuellen Missbrauchs kann bestraft werden, wer ein spezifisches Abhängigkeitsverhältnis, z.B. seine Position als Arzt oder Betreuer ausnutzt, um sexuelle Handlungen mit einem Menschen vorzunehmen, der sich ihm anvertraut hat oder ihm anvertraut wurde. (Scheinbares) Einvernehmen der Patienten oder Klienten lässt den Strafvorwurf nicht entfallen.

III. Durchsetzbarkeit

Das Strafrecht bietet dem Gesetzgeber ein wirkungsvolles Instrument, um sein Unwerturteil über besonders gravierende Formen der Diskriminierung öffentlich zum Ausdruck bringen. Als Instrument des individuellen Rechtsschutzes Einzelner vor Diskriminierung eignet es sich hingegen nur bedingt. Zum einen greift das Strafrecht nur bei besonders eklatanten Rechtsverletzungen. Zum anderen setzen strafrechtliche Sanktionen nicht an den Ursachen der Diskriminierung an. Zudem ist das Strafrecht nicht primär am Schutz des Opfers, sondern an der Schuld des Täters orientiert. Belastungen des Opfers durch die Zeugenrolle im Strafverfahren können daher unvermeidbar sein.
Straftaten werden von der Staatsanwalt und deren Helferin, der Polizei, verfolgt. Rechtsgrundlagen des Strafverfahrens bilden das GVG und die StPO. Hält die Staatsanwaltschaft nach Abschluss der Ermittlungen einer Verurteilung des Angeschuldigten für wahrscheinlich, erhebt sie Anklage. Ob das Verfahren in erster Instanz vor dem Amts- oder Landgericht verhandelt wird, hängt von der Höhe der zu erwartenden Strafe und der Art des Deliktes ab. Gegen Urteile des Strafgerichts sind die Rechtsmittel der Berufung und Revision gegeben. Kriminalitätsopfer haben im Strafverfahren grundsätzlich nur die Stellung von Zeugen. Die Opfer von Gewalt- und Sexualstraftaten können ihre Verfahrensstellung aber stärken, in dem sie dem Strafverfahren als Nebenkläger beitreten und sich hierzu von spezialisierten Anwälten (Nebenklagevertretern) beraten und vertreten lassen. Die Kosten der Nebenklagevertretung übernimmt in vielen Fällen die Staatskasse. Informationen zur Nebenklagevertretung und anderen Zeugenschutzmaßnahmen erteilen spezialisierte Opferschutzorganisationen und die Polizei und Staatsanwaltschaft.
Der Grundsatz in dubio pro reo - im Zweifel für den Angeklagten - stellt im Strafverfahren besonders hohe Anforderungen an die Beweisführung. Die Mehrzahl aller Strafverfahren wird eingestellt.
Je näher sich Täter und Opfer bekannt sind, umso seltener bringen die Opfer die Taten zur Anzeige. Gerade diese Straftaten bewegen sich daher oft im Dunkelfeld. Gewalthandlungen im sozialen Nahraum sind in der Regel Wiederholungstaten, deren Häufigkeit und Intensität mit der Zeit zunehmen. Hier hat der Schutz der Opfer vor weiteren Übergriffen im Zweifelsfall Vorrang vor der Strafverfolgung. Das Gewaltschutzgesetz ermöglicht es den Verletzten, sich die Wohnung vom Gericht zumindest für einen befristeten Zeitraum zur alleinigen Nutzung zuweisen zu lassen, anstatt ins Frauenhaus zu flüchten und dem Täter jeglichen Kontakt zu untersagen. Behinderte Menschen, die innerhalb von Pflege- und Rehabilitationsverhältnissen Opfer von körperlicher oder sexueller Gewalt werden, sind zu ihrem Schutz vor weiteren Übergriffen hingegen meist auf die Mitwirkung der Einrichtung oder des Dienstes angewiesen.
Wenngleich ein Strafverfahren nicht auf den unmittelbaren Schutz der Opfer gerichtet ist, so kann es doch für diese nicht nur belastende, sondern auch entlastende Wirkung haben. Es kann ihnen helfen, aus der Rolle des Opfers herauszutreten, ihre Würde zurückzuerlangen und gesellschaftliche Solidarität zu erfahren.

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