NETZWERK ARTIKEL 3
Verein für Menschenrechte und Gleichstellung Behinderter e.V.

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Wer A sagt muss auch B sagen

Von Artikel 3 GG zum BGG:
Erfahrungen und Perspektiven für die Gleichstellung Behinderter Menschen

Beitrag von Horst Frehe, Leiter der Nationalen Koordinierungsstelle für das Europäische Jahr der Menschen mit Behinderungen auf der Tagung «Gleich richtig stellen» Gleichstellung für Behinderte von der Kommune bis zur UN am 26./ 27. Juli 2003 in Bremen

Horst Frehe

Ich möchte meinen Beitrag mit einem Zitat von Jonathan Swift beginnen, den viele von Ihnen als Autor der Satire „Gullivers Reisen“ kennen, mit der er das Verhältnis der englischen Krone zu Irland karikiert:

„«Nichts trägt mehr zum guten Ruf einzelner Personen oder zur Ehre einer ganzen Nation bei als die Einrichtung und Stiftung geeigneter Gebäude zur Aufnahme jener, die von verschiedenen Leiden geplagt sind. Die Kranken und Unglücklichen werden dadurch von dem Elend fehlenden Beistands befreit, andere werden dadurch von dem Elend ihres Anblicks befreit.»
( Jonathan Swift, Ein ernsthafter und brauchbarer Plan zur Schaffung eines Hospitals für Unheilbare, von allgemeinem Nutzen für alle Untertanen Seiner Majestät, in ders., Ausgewählte Werke, Bd. 1, Berlin und Weimar, 4. Aufl. 1997, S. 452 (Avishai Margalit, Politik der Würde – Über Achtung und Verachtung, Berlin 1997, S. 218)

Diese bereits 1733 gemachte scharfzüngige Bemerkung von Swift beschreibt vorzüglich den Ausgangspunkt unserer Auseinandersetzung um eine andere Behindertenpolitik. Nicht mehr ausgrenzende Fürsorge sondern ein gleiches Recht auf Teilhabe an und in Gesellschaft durchzusetzen.

Als mir 1966 nach meinem Unfall als einzige Lebensperspektive das Leben eines Korbflechters in den Anstalten Friedehorst hier in Bremen eröffnet wurde, hatte man mich mit der nötigen Motivation ausgestattet, für bessere Lebensmöglichkeiten für mich und andere zu kämpfen. Eine Behindertenpolitik umzukrempeln, die am Primat institutioneller Versorgung, an fürsorglicher Bevormundung durch Professionelle und an einer mitleidheischenden Darstellung des Elendes orientiert war, war ein Bohren dicker Bretter, bei dem so mancher Bohrer stumpf wurde oder abbrach.

Benachteiligungsverbot

Als wir 1992 erste Überlegungen zu einem Diskriminierungsverbot im Grundgesetz entwickelten, wurden wir von einigen wohlmeinenden Politikern davor gewarnt, unter behinderten Menschen Illusionen über die Auswirkung eines solchen Verbotes unter behinderten Menschen zu wecken. Dabei waren wir sicherlich die größeren Realisten. Uns war völlig klar, dass ein Diskriminierungsverbot im Grundgesetz durch einfachrechtliche Regelungen ergänzt werden musste. Als 1994 der Artikel 3 Absatz 3 der Satz: «Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.» aufgenommen wurde, hatten wir schon erste Überlegungen zu einem Antidiskriminierungsgesetz auf Kiel gelegt.

So wichtig die Aufnahme des Benachteiligungsverbotes als grundrechtlich geschützter Anspruch gegen Aussonderung und Abwertung war, so wichtig ist auch seine Umsetzung in die alltägliche Praxis. Nach der Qualifizierung behinderter Menschen als „lebensunwertes Leben“ und Vernichtung in den Euthanasieanstalten im Nationalsozialismus war für uns wichtig, dass Behinderung niemals mehr Anknüpfungspunkt für eine gesellschaftliche Benachteiligung sein durfte. Es hatte immerhin über 50 Jahre gedauert, bis diese Lehre zur Aufnahme eines solchen Benachteiligungsverbot auch für behinderte Menschen im Grundgesetz geführt hat. Um es mit Margalit, einem israelischen Philosophen, zu sagen:

«Eine Gesellschaft ist entwürdigend, wenn sie die erforderlichen Mittel hat, aber keine Bereitschaft zeigt, diese den Behinderten zur Verfügung zu stellen.»“ (Avishai Margalit, Politik der Würde - Über Achtung und Verachtung, Berlin 1997, S. 218)

Die (Wieder-)Herstellung unserer Würde durch eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe ohne alltägliche Benachteiligungen und Barrieren und ein Recht auf eine selbstbestimmte Lebensgestaltung, war unser primäres Ziel, dem wir mit dem Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) und dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) ein ganzes Stück näher gekommen sind.

Landesgleichstellungsgesetze

«Wer A sagt muss auch B sagen» heißt für uns, dass wir diesen Weg weiter führen wollen und müssen. In unserem ersten Entwurf eines Antidiskriminierungsgesetzes für Behinderte hatten wir als Forum behinderter Juristinnen und Juristen (FbJJ) eine erste Sammlung von Vorschriften gesammelt, um die Benachteiligungen durch den Staat und die Bürger mit Vorschriften im öffentlichen wie auch im Zivilrecht zu beseitigen. Uns war klar, dass dieser Katalog nicht umfassend und auch nicht der Weisheit letzter Schluss war. Er hat aber – wie wir alle wissen – die politische Diskussion, auch mit starker Unterstützung des Behindertenbeauftragten des Bundes Karl-Hermann Haack, erheblich vorangebracht. Leider haben noch nicht alle Länder ihr Versprechen wahr gemacht, eine den Bundesvorschriften entsprechende Regelung auch in den Ländern zu verabschieden. Während Berlin und Sachsen-Anhalt schon vor dem BGG gesetzlich tätig geworden waren, haben Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein zügig dem BGG entsprechende Gesetze verabschiedet. Nun hat auch Bayern nachgezogen. Andere hinken noch hinterher. Das schmerzt mich insbesondere für das Bundesland Bremen in dem ich geboren bin, weil dort die Diskussion um Landesgleichstellungsgesetze begonnen hatte.

Die weitere landesrechtliche Umsetzung des Gleichstellungsgedankens ist deshalb so wichtig, weil zahlreiche, für behinderte Menschen besonders wichtige Gesetzgebungsbereiche ausschließliche Landeskompetenz sind:

Ein Staat, der Stolz auf seinen Föderalismus ist, muss auch dafür sorgen, dass die Länder nicht nur auf ihre Kompetenzen pochen, sondern auch ihre Verantwortung wahrnehmen. Diese kann auch nicht mit dem allfälligen Argument der fehlenden finanziellen Ressourcen weggeschoben werden. Wie am an mancher Länderpolitik sehen kann, ist es nur eine Frage der Prioritätensetzung, ob die Grundrechte und eine gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen an der Gesellschaft wichtiger sind als die vage Hoffnung, mit fragwürdigen Investitionsförderprogrammen Beschäftigung zu initiieren. Die Ausgrenzung eines Teils der Bevölkerung hinzunehmen, heißt nach Margalit, diesen zu demütigen. Eine solche Gesellschaft ist seiner Auffassung keine anständige Gesellschaft. Der Staat hat dann einen wichtigen Teil seiner Legitimation verspielt.

Antidiskriminierungsgesetz

Aber auch der bisherige Umgang mit dem Zivilrechtlichen Antidiskriminierungsgesetz (ZAG), der in der letzten Legislaturperiode schon im Entwurf vorlag, ist nicht gerade ermutigend. Viele behinderte Menschen warten darauf, dass

Richtlinie der Europäischen Union gegen die rassische und ethnische Diskriminierung

Es leuchtet keineswegs ein, diese Richtlinie der Europäischen Union gegen die rassische und ethnische Diskriminierung nur für diesen Personenkreis, nicht aber für behinderte Menschen umzusetzen.

Damit wird klar, dass auch in der Europäischen Union (EU) Regelungen geschaffen werden müssen, die sicherstellen, dass bei allen Rechtsakten der EU Rechte und Anforderungen behinderter Menschen berücksichtigt werden. Nicht nur die EU-Verwaltung muss sich ähnlichen Anforderungen wie die Bundesregierung im BGG stellen. Es kann nicht sein, dass die Sitzungen des Beirates zum Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen in Räumen stattfindet, die nur über einen Nebeneingang und nach Anforderung durch einen Fußgänger für Rollstuhlfahrer zugängig gemacht werden. Benachteiligungsverbot und Barrierefreiheit muss in allen Organen der EU umgesetzt werden.

Gleichzeitig bedarf es einer «Allgemeinen Richtlinie zur Gleichstellung behinderter Menschen» um Regelungen quer zu der Struktur der Generaldirektionen in allen Aufgabenbereichen zu berücksichtigen, die die Diskriminierung behinderter Menschen reduzieren. Ob es um Anforderungen an Busse, Fahrgastschiffe, Geldautomaten, Preisauszeichnungen, Verbraucherinformationen usw. geht, immer ist auch die Barrierefreiheit für behinderte Menschen berührt. Ebenso müssen Regelungen für die Sozialrechtssysteme verankert werden, die den Leistungsexport verbessern, denn nur so kann die Niederlassungsfreiheit eines jeden EU-Bürgers, auch für behinderte Menschen sichergestellt werden.
Das Engagement der Bundesregierung für eine solche Richtlinie begrüßen wir sehr. In der nahen Zukunft sollte daher überlegt werden, wie dieses Anliegen auch mit anderen wichtigen Vertragsstaaten vorangebracht werden kann.

Wenn man die Lebenssituation vieler behinderter Menschen außerhalb Europas sieht, wird deutlich, dass durch verbindliche internationale Regelungen die Einhaltung der Menschenrechte gegenüber Behinderten verstärkt werden muss. Bei aller Wertschätzung für die von der UN erlassenen «Allgemeinen Bestimmungen – Standard Rules», die auf die gutwilligen Länder einen erheblichen Einfluss auf den Umgang mit behinderten Menschen hatten und haben, ist eine Verstärkung des Kontrollmechanismus’ dringend erforderlich. Wir werden sehr gespannt die Beratungen in dem „Ad-hoc-Ausschuss“ verfolgen, an dem die Bundesregierung zusammen mit einer Vertretung behinderter Menschen – durch die hier anwesenden Frau Ullrich und Frau Prof. Degener – beteiligt sind.

Durch das SGB IX und das Behindertengleichstellungsgesetz sowie die vielen Einzelvorschriften zur Gleichstellung behinderter Menschen sind natürlich weder die alltäglichen Benachteiligungen plötzlich weggefallen oder haben sich in Luft aufgelöst. Die Gesetze stellen m.E. ein gutes Handwerkszeug dar, mit denen Benachteiligungen und Barrieren beseitigt oder zumindest reduziert werden können. Es kommt entscheidend auf die Anwendung dieses Instrumentariums an. Dazu gibt es bisher nur wenige Erfahrungen. Die Mitwirkung bei Nahverkehrsplänen, die Beteiligung beim Aufstellen von Programmen zur Herstellung eines barrierefreien Eisenbahnverkehrs, Zielvereinbarungen im Luftverkehr und bei der barrierefreien Gestaltung der privaten Angebote, setzt Kompetenz und Kraft der Behindertenverbände voraus, um solche bürgerrechtliche Lösungen zu ermöglichen. Ob ein solcher Ansatz funktioniert, hängt wesentlich von der Bereitschaft und Fähigkeit der Akteure ab, die neuen Instrumente zu nutzen. Behindertenverbände, Unternehmen, Bundes- und Landesregierungen sollten daher darüber nachdenken, wie dieses unterstützt werden kann. Vom Erfolg dieses Projektes hängt es ab, ob auch zukünftig solche offenen Verhandlungskonzepte ordnungspolizeilichen Regelungen vorgezogen werden.


Auf dieser Tagung werden eine ganze Reihe von Erfahrungen, neue Ideen und Konzepte vorgestellt werden. Die Umsetzung der Gleichstellung behinderter Menschen von der kommunalen bis zur internationalen Ebene wird thematisiert. Ich wünsche uns auf dieser Tagung spannende und ertragreiche Diskussionen, einen guten Austausch praktischer Erfahrungen und ein produktives Klima für neue Visionen.


Ihr E-Mail-Kontakt an das Tagungsbüro   ottmar.miles-paul@bifos.de

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Rolf Barthel   am 28.07.03

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