Behinderte beklagen Ignoranz gegenüber Gleichstellungsgesetz

aus: Frankfurter Rundschau vom 29. Juli 2003

"Bestimmungen werden nicht ernst genommen" / Tagungsteilnehmer fordern weiteren Schutz vor Diskriminierung. Gut ein Jahr nach dem Inkrafttreten des Behindertengleichstellungsgesetzes haben 200 Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen bei einer Tagung in Bremen eine kritische Bilanz gezogen. Die Vorschriften würden kaum ernst genommen, klagten die Teilnehmer. Sie forderten, auch die Bundesländer müssten eigene Gleichstellungsgesetze beschließen.

Von Keyvan Dahesch

Bremen: Wie wenig die Gesetzesvorgaben umgesetzt werden, erlebte eine stark sehbehinderte Frau, als sie im Zug in Bremen ihren Nachbar nach der Ausstiegsseite fragte. «Rechts, steht doch auf der Anzeige!» Die wenigsten Zugführer sagen mit der nächsten Station auch die Ausstiegsseite an. Aber selbst die Ministerien, ihre nachgeordneten Behörden und die gesetzlichen Krankenkassen nähmen das Gleichstellungsgesetz nicht ernst, klagten die Tagungsteilnehmer.

So sollen wegen ihrer doppelten Benachteiligung Frauen mit Behinderungen besonders gefördert werden, verlangt das Gesetz. «Doch davon merken unsere Mitglieder bislang kaum etwas»,, sagte Martina Puschke vom «Weibernetz» in Kassel, einem Zusammenschluss behinderter Mädchen und Frauen. In Ausschüssen und Beiräten, die nach diesem Gesetz und dem Sozialgesetzbuch IX bei den Reha-Trägern und Integrationsämtern über Projekte für Menschen mit Behinderungen mitreden, sind betroffene Frauen nicht oder wenig vertreten. Kampfsport, bei dem behinderte Frauen in Kursen die Selbstverteidigung lernen würden, um sich gegen Übergriffe zu wehren, gelte nicht als förderungswürdig, sagte Puschke.

Und der Geschäftsführer des Deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf, Andreas Bethke, klagt: «Es fällt schwer, den Behörden klar zu machen, dass barrierefrei gestaltete Internetseiten, die alle Menschen gemeinsam nützen können - wie Beispiele aus den USA zeigen - Einsparungen bringen».
Der Bremer Sozialrichter Horst Frehe kritisierte, dass nicht alle Bundesländer, Gleichstellungsgesetze beschlossen hätten. Solange dies aber nicht geschehe, werde es in öffentlichen Einrichtungen wie Rathäusern, Sportplätzen oder Theatern keine Rampen und Toiletten für Rollstuhlfahrer, Leitstreifen für Blinde, Hinweise in Großschrift für Sehbehinderte und Mitteilungen in leicht verständlicher Sprache für Menschen mit Lernschwierigkeiten geben. Rollstuhlfahrer Frehe leitet zurzeit die nationale Koordinierungsstelle des europäischen Jahres der Menschen mit Behinderungen beim Bundessozialministerium. Gleichstellungsgesetze gibt es laut Frehe bislang in Berlin, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz und Bayern.

Die Bochumer Rechtswissenschaftlerin Theresia Degener forderte, die Gleichstellung behinderter Menschen in öffentlichen Institutionen müsse durch das «seit Jahren versprochene Antidiskriminierungsgesetz auch im privaten Rechtsverkehr ergänzt werden». Anderenfalls können Banken, Versicherungen, Reiseanbieter und Hausbesitzer Verträge mit Menschen wegen ihrer Behinderung ablehnen, erklärte die ohne Hände und Arme aufgewachsene promovierte Juristin. «Das ist ärgerlich, weil nach dem Kompromiss bei der Gesundheitsreform künftig die Berufsunfähigkeit, der Zahnersatz und das Krankengeld privat versichert werden müssen und Versicherungen behinderte Menschen nicht oder gegen einen hohen Risikozuschlag annehmen»,, ergänzte Bundesbehindertenbeauftragter Karl Hermann Haack.

Gleichstellung
Das Behindertengleichstellungsgesetz soll den rund 6,6 Millionen Schwerbehinderten hier zu Lande ein weitgehend barrierefreies und selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Seit Mai 2002 sind Ministerien, Behörden und andere öffentliche Einrichtungen im Bund verpflichtet, ihre Gebäude, Informationen und Dienste so umzugestalten, dass behinderte und nicht behinderte Menschen sie gleichermaßen erkennen, erreichen und benutzen können. Durch das Gesetz erhielten Hörbehinderte zudem einen Rechtsanspruch auf einen Gebärdendolmetscher. Blinde und Sehbehinderte haben auch Anspruch darauf, amtliche Schreiben in Brailleschrift oder auf Tonträgern zu bekommen. Im Arbeitsleben haben Behinderte Anspruch auf Schadenersatz, wenn sie bei einer Bewerbung vom Arbeitgeber wegen des Handicaps abgelehnt werden. Auch ist ein Klagerecht für Behindertenverbände vorgesehen. Das Gleichstellungsgesetz sollte zudem Verwaltungsverfahren beschleunigen. (FR)


Wir bedanken uns beim Autor und dem Verlag der Frankfurter Rundschau für die freundliche Genehmigung dieses FR Artikels, der am 29. Juli 2003 in der Frankfurter Rundschau erschienen ist.