Kassel/Wien: Gesellschaftspolitische Arbeit bedeutet für Martin Ladstätter aus Wien immer auch, den Blick auf das Machbare zu haben; auch auf mögliche Kompromisse zu achten. In Österreich konnte die Behindertenbewegung in den letzten Wochen einige Erfolge, wie beispielsweise bei der Wahlrechtsreform und bei E-Rollern, erzielen. Ottmar Miles-Paul vom Projekt Gute Nachrichten zur Inklusion sprach mit Martin Ladstätter, der sich schon seit vielen Jahren in der österreichischen Behindertenbewegung engagiert, darüber, was erreicht wurde und wie dies gelungen ist.
Ottmar Miles-Paul: Sie sind in der österreichischen Behindertenbewegung auf verschiedenen Ebenen tätig. Was machen Sie genau und was beschäftigt Sie derzeit besonders?
Martin Ladstätter: Im Bereich der Interessenvertretung leite ich BIZEPS – Zentrum für Selbstbestimmtes Leben und bin auch Präsidiumsmitglied des Österreichischen Behindertenrats, des Dachverbands der österreichischen Behindertenbewegung. Weiters bin ich Teil des Menschenrechtsbeirates der Republik Österreich und Publikumsrat des ORF. Meine Aufgaben sind daher spannend und vielfältig. Die inhaltliche Klammer ist für mich: Durchsetzung von Menschenrechten.
Ottmar Miles-Paul: Österreichs Parlament hat kürzlich eine Wahlrechtsreform beschlossen, die besonders auch für behinderte Menschen interessant ist. Was hat es damit auf sich?
Martin Ladstätter: Über diese Reform haben wir uns wirklich sehr gefreut. Am 31. Jänner 2023 wurde im Plenum des Parlaments beschlossen, dass Wahlrechtsgesetze verändert werden. Es gab massiven Widerstand; beispielsweise von der Stadt Wien.
Ottmar Miles-Paul: Das wäre also eine entscheidende Reform, um sicherzustellen, dass zukünftig alle Wahlen weitgehend barrierefrei abgehalten werden müssen?
Martin Ladstätter: Ja, dabei wurden auch zur Barrierefreiheit beispielsweise zu den Wahlhilfen für blinde Menschen oder zur barrierefreien Zugänglichkeit von Wahllokalen gesetzliche Vorschriften erlassen. Beinahe 30 Jahre hat es seit den ersten Anläufen gedauert. Nun ist aber fix: Ab 2028 müssen Wahllokale bei Bundeswahlen grundsätzlich barrierefrei sein.
Ottmar Miles-Paul: Aber auch in Sachen E-Roller tut sich was in Österreich, zumindest in Wien, wie im österreichischen Online-Nachrichtendienst BIZEPS kürzlich zu lesen war. Welche Regelungen zur Abstellung und Nutzung der E-Roller soll es zukünftig in Wien geben?
Martin Ladstätter: Wie in vielen Städten sind E-Roller in den letzten Jahren zu einem Ärgernis geworden. Diese Leihroller stehen und liegen an vielen Orten herum und haben sich zu einer Barriere am Gehsteig entwickelt. Die Stadt Wien und Anbieter haben vergeblich versucht, mit Bewusstseinskampagnen, Informationen an die Kund:innen und Wegräum-Hotlines die Situation zu verbessern. Auch Initiativen wie Sensibilisierungskarten von Blindenorganisationen brachten – wie in anderen Städten auch – keinen Erfolg.
Nun hat die Stadt Wien – auch unter massivem Druck der Medien und der Behindertenbewegung durchgegriffen und neue Regeln erlassen. Wichtig dabei ist, dass Parken am Gehsteig verboten wird. Parken ist nur mehr auf fixen Abstellflächen gestattet. Diese werden gerade massiv ausgebaut.
Weiters wird die Gesamtzahl der Leih-E-Roller festgeschrieben und diese müssen alle in Echtzeit den genauen Standort an die Stadt Wien senden. Das ermöglicht ein konsequentes Strafen bei unzulässigem Abstellen. In solchen Fällen werden Strafen an die Betreiber ausgestellt, die dann Konsequenzen bei ihren Nutzer:innen setzen können.
Wir haben in den letzten Jahren – gemeinsam mit anderen Organisationen – die Beseitigung des Chaos vehement eingefordert und Vorschläge gemacht. Wir erwarten uns von diesen Regeln, wenn sie eingehalten werden, eine deutliche Verbesserung.
Ottmar Miles-Paul: Das sind ja einige positive Entwicklungen. Wie schafft es die österreichische Behindertenbewegung, solche Erfolge zu erreichen, während die Entwicklung in Deutschland derzeit stagniert?
Martin Ladstätter: Mit viel Hartnäckigkeit und Lobbying. Die österreichische Behindertenbewegung ist sicherlich nicht besser als jene in Deutschland. Jeder der Erfolge erforderte viel Arbeit und oft auch das Ausnützen einer günstigen Gelegenheit.
Gesellschaftspolitische Arbeit – so meine Erfahrung – heißt immer auch, den Blick auf das Machbare zu haben; auch auf mögliche Kompromisse zu achten. Gerade der Kompromiss und das Anstreben von Teilerfolgen wird häufig unterschätzt.
Eine Alles-oder-nichts-Strategie ist zwar gut für das Ego, meist aber nicht erfolgreich und hilfreich. Meiner Erfahrung nach ist es wichtig, zwischen Zielen und Teilergebnissen zu unterscheiden. Was mich meinem Ziel näher bringt, ist wertvoll; auch, wenn ich es nicht gleich zu 100 % erreiche.
Ottmar Miles-Paul: Was steht sonst noch in diesem Jahr auf der behindertenpolitischen Agenda in Österreich, bzw. was möchten Sie gerne vorantreiben?
Martin Ladstätter: Eine jahrzehntelange Dauerbaustelle in Österreich ist der Bereich Bildung. Wir gehören hier sicherlich zu Europas Schlusslichtern. In Österreich hat das Aussondern von Schüler:innen mit Behinderungen noch immer Tradition. Aber der Bildungsbereich ist in Österreich – auch abgesehen von der Inklusion – eine Dauerbaustelle.
Es sieht so aus, als könnten wir hier nur juristisch Erfolge erzielen. Genau das wird gerade erprobt. Derzeit läuft eine Verbandsklage wegen unzureichender Persönlicher Assistenz im Bildungsbereich. Weiters gibt es eine Verfassungsklage, weil Schüler:innen mit Behinderungen Schuljahre verwehrt werden, die nichtbehinderte Schüler:innen selbstverständlich bekommen.
Man sieht: Uns wird auch in den nächsten Jahren die Arbeit nicht ausgehen.
Ottmar Miles-Paul: Vielen Dank für das Interview.