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Besucher*innengruppe im Bundestag: Foto: Simon Loeseke - BundespresseamtBerlin: Die einzelnen Abgeordneten des Deutschen Bundestages können pro Jahr drei Besucher*innengruppen nach Berlin einladen, denen dort ein umfassendes und kostenfreies Besuchsprogramm geboten wird. Diese Bildungsfahrten werden vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung in Abstimmung mit den einzelnen Abgeordnetenbüros organisiert. So finden jährlich über 2.000 solcher meist dreitätigen Fahrten mit ca. 100.000 Teilnehmenden statt. Die Gruppe, die vom 2. bis 4. April 2024 auf Einladung des Abgeordneten Boris Mijatović aus Kassel und seinem Team aus verschiedenen Teilen Deutschlands nach Berlin gereist ist, unterschied sich durch ihre Vielfalt in vielerlei Hinsicht von den sonst üblichen Gruppen und hatte auch so manche Herausforderungen für die Organisation parat. Dass diese gut gemeistert wurden ist für Ottmar Miles-Paul eine gute Nachricht zur Inklusion. Er hatte die weitgehend inklusive Bildungsfahrt im Rahmen des Projektes Gute Nachrichten zur Inklusion mitinitiiert und begleitet.

Bericht von Ottmar Miles-Paul

Spätestens beim Vortrag und der Diskussion im Presse- und Informationsamt der Bundesregierung wurde deutlich, welche Herausforderungen mit der Organisation der über 2.000 Bundestagsfahrten verbunden sein müssen. Sind wir oft schon geschafft, wenn wir Tagungen erfolgreich und weitgehend barrierefrei über die Runden gebracht haben, so grüßt in Berlin täglich das Murmeltier. Denn bei über 2.000 Bildungsfahrten sind wöchentlich zum Teil 60 bis 70 Besucher*innengruppen in Berlin unterwegs, die organisiert sein wollen und bei denen kaum eine der anderen gleicht. Nach der Bildungsreise ist dort also immer gleich vor der nächsten Bildungsreise.

Dabei muss man bei Gruppengrößen von in der Regel 50 Personen davon ausgehen, dass in jeder Gruppe auch behinderte Menschen mit ganz unterschiedlichen Bedürfnissen und Anforderungen für die Barrierefreiheit mit von der Partie sein können – auch wenn dies sicherlich noch nicht bei jeder Fahrt der Fall ist. Ob bei Fahrten mit Schulklassen, Fahrten mit Vertreter*innen aus der Kommunalpolitik, mit Aktiven in Betrieben oder einfach nur bei bunt gemischten Gruppen, gilt es die Bedürfnisse der einzelnen Mitreisenden zu berücksichtigen. Und dies vor allem im Zeitalter der Inklusion und den damit verbundenen Anforderungen zur Barrierefreiheit.

Obwohl es in den letzten Jahren immer wieder Bildungsfahrten von inklusiv ausgerichteten Gruppen von einzelnen Abgeordneten nach Berlin gegeben hatte und schon eine Reihe von Erfahrungen vorliegen, wurde aus den Reihen der Behindertenbewegung immer wieder die Idee laut, dass man solche Fahrten einmal testen müsste. Und da kam die Schulung zum Empowerment zur Selbstvertretung behinderter Menschen in der Politik und in Gremien des Bildungs- und Forschungsinstituts zum selbstbestimmten Leben Behinderter (bifos) gerade zur rechten Zeit. Denn das Team des Kasseler Grünen Abgeordneten Boris Mijatović hatte geplant, eine inklusive Bundestagsfahrt durchzuführen. Und so wurde dieses Projekt gemeinsam angepackt.

Nach einigen Wochen an Vorbereitungszeit und Planung ging es am 2. April 2024 mit dem ICE von Kassel nach Berlin los. Und damit waren wir schon bei einem der neuralgischen Punkte bei solchen Fahrten: der Deutschen Bahn und ihr begrenztes Angebot an Plätzen für Rollstuhlnutzer*innen pro Zug. Nur zwei Rollstuhlnutzer*innen durften mitgenommen werden. Und dies wäre für so manche Gruppen ein riesiges Problem, weil man dann zu unterschiedlichen Zeiten mit verschiedenen Zügen anreisen müsste, bzw. einzelne Personen gar nicht mitkommen könnten. Aufgrund der bundesweiten Ausrichtung dieser Bildungsfahrt hatten wir das Glück, dass einige Rollstuhlnutzer*innen aus Süddeutschland und Rheinland-Pfalz mit anderen Zügen anreisten. Aber auch dies war eine logistische Herausforderung, um möglichst gleichzeitig vom Berliner Hauptbahnhof und ohne Verspätungen gemeinsam mit der Bildungsfahrt starten zu können, wo wir von zwei, statt wie sonst üblich nur einer, Reisebegleiterinnen empfangen wurden. Und das war auch gut so, denn hier musste die Gruppe bereits geteilt werden, weil einige der rund 40 Teilnehmenden, die in Berlin recht ausgelasteten Aufzüge nutzen und Umwege in Kauf nehmen mussten.

Als das Nadelöhr Berliner Hauptbahnhof überwunden war und alle in dem mit einem Hublift ausgestatteten Reisebus saßen, trat bei der ersten Stadtrundfahrt so langsam Entspannung ein und die Teilnehmenden konnten sich auf die Geschichte und Sehenswürdigkeiten von Berlin einlassen. Für Daniela Lindow Marinelli, die die Reisenden zusammen mit Sabine Lochner-Zerbe während der Zeit in Berlin im Auftrag des Bundespresseamtes begleiteten, stellte sich hier jedoch schon eine erste Herausforderung. Da eine Reihe blinder und sehbehinderter Teilnehmenden dabei waren, musste erst einmal austariert werden, wie die Beschreibungen bei einer Stadtrundfahrt mit dem Bus möglichst barrierefrei gestaltet werden können. Während es sonst beispielsweise heißt: „Und wie Sie links sehen …“ musste die erfahrene Reisebegleiterin den Spaghat zwischen detaillierteren Beschreibungen und dem Zeitdruck des strammen Programms schaffen. Dies gelang ihr und ihrer Kollegin während dieser Fahrt ausgezeichnet, so dass diese für ähnliche Fahrten auf jeden Fall zu empfehlen sind.

Im Bundesministerium für Arbeit und Soziales angekommen, gab es nicht nur ein Tastmodell des umfangreichen und geschichtsträchtigen Gebäudes, sondern auch gute Erklärungen zur Geschichte des Ministeriums. Trotz der Osterferienzeit schaffte es der Bundesbehindertenbeauftragte Jürgen Dusel die bunte Besucher*innengruppe im Ministerium zu begrüßen und einen Überblick über die vielfältigen Aktivitäten zur Inklusion zu geben. Dies bot guten Gesprächsstoff für eine abwechslungsreiche Diskussion im Anschluss an die Einführung von Jürgen Dusel.

In Verbindung mit dem zweiten Teil der Stadtrundfahrt in Richtung Hotel entlang der Straße Unter den Linden ging es dann zum Hotel. Hier waren viele gespannt, wie sich dort die Dinge gestalten würden. Denn all diejenigen, die mit Fragen der Barrierefreiheit zu tun haben, wissen, wie schwierig es ist, gute und barrierefreie Unterkünfte für Gruppen zu finden. Doch auch hier sortierte sich die Gruppe schnell und ohne größere Probleme mit den Zimmern, so dass dem leckeren Abendessen nichts mehr im Wege stand. Diese zentralen Herausforderungen waren also gut bewätligt.

Der nächste Tag war nicht nur von frühem Aufstehen mit der Abfahrt um kurz nach 8:00 Uhr, sondern auch von einem strammen Programm geprägt. Der Besuch des Bundespresseamts, eine Führung beim ZDF, Mittagessen im Paul-Löbe-Haus mit Sicherheitscheck, ein kurzer Ausflug zu Stätten des Protests der Behindertenbewegung am Reichstag, wieder Sicherheitscheck im Reichstag gefolgt von einem Vortrag mit anschließendem Gespräch mit dem Abgeordneten Boris Mijatović plus Fototermin hielten die Gruppe auf Trab. Dass der Kasseler Bundestagsabgeordnete trotz Osterurlaubszeit extra nach Berlin gekommen war, um die Gruppe zu empfangen, das hatten viele nicht erwartet, wo wir doch gelernt hatten, wie viel Arbeit zuweilen für die Bundestagsabgeordneten anfällt. So erlebten wir ein munteres Gespräch mit Diskussionen mit dem Abgeordneten. Abends waren einige dann ziemlich platt, andere gingen aber noch mal richtig auf die Rolle.

Am letzten Tag schafften es trotzdem alle pünklich zur Abfahrt des Busses um 8:15 Uhr. Denn nun ging es zum Bundesnachrichtendienst. Während dort so manche einen trockenen und ermüdenden Vortrag befürchtet hatten, schaffte es der Referent, dass sich eine muntere Diskussion mit vielen Fragen entwickelte. Natürlich wurden uns nicht alle Geheimnisse der Beschaffung von Informationen über Aktivitäten in verschiedenen Ländern der Welt offenbart, aber ein guter Einblick über die verschiedenen Dimensionen der Mitarbeitenden und Informanten des Bundesnachrichtendienstes wurden anschaulich vermittelt. Auch hier gelang es recht gut, die Informationen aus der Power Point Präsentation und des Films für blinde und sehbehinderte Menschen verständlich zu skizzieren.

Nach einem Mittagessen wurde es bei der Rückfahrt noch einmal richtig spannend. Neben der Frage, wie der Umstieg in Göttingen in einen Regionalzug nach Kassel bei einer solch großen und diversen Gruppe gelingen möge, erfuhren wir, dass der ursprünglich geplante ICE von Berlin nach Kassel ausfällt und ein Ersatzzug eingesetzt wird. Das bedeutet in der Regel, dass die Platzreservierungen aufgehoben sind. Die Servicemitarbeiter*innen, die den Einstieg für Rollstuhlnutzende sicher stellten, halfen uns dabei zum Glück dahingehend, dass wir alle zusammen in einem Abteil der 1. Klasse fahren konnten. Ein Luxus, den viele genossen, allein schon deshalb, weil niemand bei der Rückfahrt auf dem Boden sitzen oder stehen musste, wie dies zuweilen der Fall ist. Und auch in Göttingen fanden alle einen Sitzplatz für die letzte Stunde nach Kassel im Anschlusszug.

Auch wenn diese Gruppe längst nicht alle Menschen und Bedarfe repräsentierte und beispielsweise kein Bedarf für Gebärdensprachdolmetschung oder Übersetzung in Leichte Sprache bestand, kann man den Organisator*innen ein großes Kompliment für diese Fahrt machen. Vor allem machte diese Fahrt Geschmack auf mehr: auf mehr Abgeordnete, in deren Gruppen behinderte Menschen selbstverständlich als Mitreisende dabei sind, auf weitere Initiativen zur Barrierefreiheit auf Seiten des Bundes und der verschiedenen Angebote im Rahmen solcher Fahrten und auf mehr genaueres Hinschauen, was die einzelnen Mitreisenden benötigen, um gleichberechtigt dabei sein zu können. Gut war auf jeden Fall, dass wir von Nico Zöller vom Team des Abgeordneten und den beiden Tourguides Daniela Lindow Marinelli und Sabine Lochner-Zerbe begleitet wurden. So war diese Fahrt mit all ihren Angeboten nicht nur ein großer Luxus, um mehr über die Bundespolitik und Berlin zu erfahren, sondern auch ein guter Test, dass Inklusion auch bei Bundestagsfahrten klappen kann. Es könnte sich also lohnen, bei den Bundestagsabgeordneten vor Ort einmal anzuklopfen und zu fragen, ob bei einer der nächsten Berlin-Fahrten noch Plätze frei sind.