Die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, Karin Evers-Meyer, befürwortet eine gesetzliche Klarstellung im Schwerbehindertenrecht, damit der Nachteilsausgleich des Merkzeichens B nicht zu neuen Nachteilen für die Betroffenen führt.
Behinderte Menschen, die bestimmte Voraussetzungen erfüllen, erhalten einen Schwerbehindertenausweis mit verschiedenen Merkzeichen, die jeweils zur Inanspruchnahme bestimmter Nachteilsausgleiche berechtigen. Das Merkzeichen B (für Begleitperson) berechtigt zur unentgeltlichen Mitnahme einer Begleitperson in öffentlichen Verkehrsmitteln. Das betrifft zum Beispiel Menschen im Rollstuhl, blinde, seh- oder hörbehinderte Menschen oder Menschen mit einer so genannten geistigen Behinderung.
Voraussetzung dafür ist, dass jemand bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel in der Regel Hilfe braucht. Das Gesetz, das vor vielen Jahrzehnten entstanden ist, drückt dies aber mit Begriffen wie ‘Notwendigkeit’ und ‘Gefahr für sich oder andere’ aus. Daher verfallen in letzter Zeit immer mehr Menschen auf die Idee, dass jemand, der einen Ausweis mit solch einem Merkzeichen besitzt, gar nicht in der Lage ist, sich allein außerhalb seiner Wohnung zu bewegen oder dass er regelmäßig eine Gefahr für sich oder andere darstellt. Das hat der Gesetzgeber nicht gewollt und es führt zu Diskriminierungen.
So hat zum Beispiel das Amtsgericht Flensburg (Urt. v. 31.10.2003, 67 C 281/03, bestätigt durch Beschluss des Landgerichts Flensburg v. 04.05.2004, 7 S 189/03) den Träger eines Wohnheimes für Menschen mit geistiger Behinderung zu Schadenersatz verurteilt, nachdem eine Bewohnerin, die allein unterwegs war, im Straßenverkehr einen Unfall mit verursacht hatte. Das Gericht begründete die Haftung zwar nicht unmittelbar aus dem Merkzeichen B, entwickelte aus der Tatsache, dass die Bewohnerin einen solchen Ausweis hatte, jedoch verschärfte Anforderungen an die Aufsichtspflicht der Einrichtung, was im Ergebnis dazu führte, dass die Einrichtung Schadenersatz leisten musste, weil sie die behinderte Frau allein auf den Weg zur Arbeit hatte gehen lassen.
"Wenn man das konsequent zu Ende denkt, können behinderte Menschen sich aus haftungsrechtlichen Gründen nicht mehr ohne eine Begleitperson durchs Leben bewegen. Die Betreuungseinrichtungen müssten ihre Bewohner fortan einsperren. Dieses Ergebnis würde den begonnenen Prozess in der Politik für behinderte Menschen der letzten Jahren ad absurdum führen", so Evers-Meyer.
Der unter anderem mit dem SGB IX eingeleitete Umdenkungsprozess in der Politik für Menschen mit Behinderungen basiert auf der Vorstellung, dass behinderte Menschen ein möglichst selbstbestimmtes und von umfassender Teilhabe geprägtes Leben in der Mitte der Gesellschaft führen. "Es geht hier um Bürgerrechtspolitik. Wir wollen Menschen mit Behinderungen ermutigen, sich zu zeigen. Wir wollen sie dabei unterstützen, stationäre Einrichtungen zu verlassen und ihnen umfassende Teilhabe am Alltag ermöglichen", so die Beauftragte. "Darüber brauchen wir uns aber nicht zu unterhalten, solange ein behinderter Mensch nicht einmal ohne Begleitung zum Bäcker gehen darf."
"Natürlich", stellt Evers-Meyer klar, "bedeutet Selbstbestimmung auch die Übernahme von Verantwortung. Wer einen Schaden verursacht, muss dafür haften, und wer zur Aufsicht über eine Person verpflichtet ist, muss dieser Pflicht auch nachkommen. Die Verantwortung für einen Unfall muss aber im Einzelfall geprüft werden. Es kann nicht sein, dass behinderte Menschen wegen eines Merkzeichens im Ausweis pauschal als wandelnde Gefahrenquellen betrachtet werden." Leider, so Evers-Meyer, sei in letzter Zeit vermehrt zu beobachten, dass die Formulierung im Gesetz über die Begleitperson in öffentlichen Verkehrsmitteln auch in Bereichen, die mit dem Straßenverkehr nichts zu tun haben, als Argument zum Ausschluss behinderter Menschen geführt hat.
Die Musterbadeordnung des Bundesfachverbandes öffentliche Bäder e. V. enthält die Regelung, dass Personen, die sich ohne fremde Hilfe nicht sicher fortbewegen können, die Benutzung nur zusammen mit einer geeigneten Begleitperson gestattet ist. Der Beauftragten liegen schriftliche Erläuterungen für das Personal der einzelnen Bäder vor, in denen für die Anwendung dieser Regelung ausdrücklich auf das Merkzeichen B im Ausweis der Betroffenen hingewiesen wird, was bereits dazu geführt hat, dass Menschen mit den unterschiedlichsten Behinderungen grundlos der Zutritt zu einigen Bädern verwehrt wurde.
Karin Evers-Meyer sieht dringenden Handlungsbedarf: "Der Gesetzgeber muss sich hier schnell etwas einfallen lassen. Wenn wir noch länger warten, setzt diese Regelung ihre Reise durch die Verordnungen in diesem Land ungehindert weiter fort. Es wird schwer genug sein, dass wieder aus den Köpfen der Verantwortlichen in den Schwimmbädern herauszubekommen. Die Fachleute meines Arbeitsstabes sind beauftragt worden, zügig nach einer Lösung zu suchen."
(PM vom 14. Februar 2006)