NETZWERK ARTIKEL 3
Verein für Menschenrechte und Gleichstellung Behinderter e.V.
Aus: Behinderung
& Menschenrecht
- Lfd. Nr. 24 - Februar / März 2004
Europäische Resolution von Betroffenen schwerer neurologischer Krankheiten zu den Themen der sogenannten Sterbehilfe und zum Problem der Patientenverfügung
Diese Resolution geht in wesentlichen Punkten auf Stellungnahmen zu einer vom Verein Locked-in-Syndrom LIS e. V. durchgeführten Befragung von Betroffenen zurück. Ziel dieser Resolution soll sein, den Betroffenen selbst eine Stimme zu verleihen und jegliches stellvertretendes Sprechen, das nicht in diesem Sinne ist, zurückzuweisen. Diese Europäische Resolution richtet sich gegen die oftmals zynischerweise noch als Patientenwille dargestellte sogenannte ‘Sterbehilfe’ und gegen den Mißbrauch von Patientenverfügungen zur aktiven und passiven Tötung von schwerkranken Menschen.
Wir, die hier anwesenden Betroffenen verschiedener neurologischer Erkrankungen, sind uns einig in dem Bestreben, die Achtung vor der Autonomie und den Persönlichkeitsrechten der vom Locked-in Syndrom und anderen schweren Krankheiten Betroffenen gegen alle Widerstände sicherzustellen. Aber sehr bedenklich und geradezu bedrohlich wirken auf uns einige Entwicklungen, die in letzter Zeit zu beobachten sind. Die Legalisierung der sogenannten Sterbehilfe in den Niederlanden und in Belgien ist für uns ein alarmierendes Signal, uns mit allem Nachdruck zu Wort zu melden und die Unmenschlichkeit nützlichkeits- und kostenbezogener Argumentation aufs Schärfste zu verurteilen. Denn letztendlich soll doch nur unter dem Mantel falscher Humanität verschleiert werden, dass die europäischen Gesellschaften im Zuge eines rasanten wirtschaftlichen Umbaus immer weniger bereit sind, die Lasten ihrer schwerkranken Mitbürger mitzutragen. Zum Beispiel soll gerade in letzter Zeit mit dem scheinbar patientenfreundlichen Mittel der sogenannten Patientenverfügung die Frage von Leben und Tod aus der Position des noch Gesunden heraus entschieden werden. Von interessierter Seite hat sich der Druck auf den Gesetzgeber hinsichtlich einer Legalisierung des Versorgungsabbruchs in akuten Krankheitsfällen, die von Außenstehenden als hoffnungslos eingestuft werden, verstärkt. Wir wissen aus Berichten von Betroffenen, dass dies bereits in deutschen Krankenhäusern inoffiziell gang und gäbe ist, wir wenden uns jedoch entschieden gegen jegliche eindeutige gesetzliche Legalisierung dieser Praxis und verurteilen bereits jetzt vorkommenden Fälle. Einige sehr schwer betroffene Menschen haben im Vorfeld dieser Veranstaltung angedeutet, dass sie in einem solchen Falle unter einen enormen sozialen Druck geraten würden, als unnütze Esser und Verprasser von Steuer- und Beitragsgeldern einfach still und leise zu verschwinden.
Wir wenden uns aufs schärfste gegen diese Versuche, über die Hintertür eines scheinbaren Mitleids in Wahrheit die Tötung oder das Sterbenlassen von schwerstkranken Menschen zu betreiben! Es muss unsere Absicht sein, zuallererst die Stimmen der Betroffenen zu hören, und diese für sich selbst sprechen zu lassen.
Deshalb stellen wir fest:
- Keiner außer dem Patienten selbst kann entscheiden, ob dieser noch Bewusstsein besitzt oder nicht. Niemand kann für einen scheinbar leblosen Menschen entscheiden, dass sich der Aufwand der Intensivmedizin nicht mehr lohnt. Patienten sind zum Teil noch nach sehr langen Phasen solcher Zustände zumindest erwacht. Darüber berichten die Medien jedoch nicht.
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Bei der Diskussion über schwere Krankheiten oder sogenannte Behinderungen kommen nur ganz selten die Betroffenen selbst zu Wort. Statt dessen werden ‘Betroffene’ aus der Familie oder Kollegen befragt, obwohl man durchaus die wirklichen Betroffenen selbst fragen könnte. Dahinter verbirgt sich die Absicht, immer wieder ‘Gesunde’ vorzuschieben, die gerade verhindern sollen, dass wir selbst uns einmischen. Auch die sogenannten Patientenverfügungen sind ein solcher Trick. Kein gesunder Mensch kann ernsthaft sagen, was er als Kranker empfinden oder wollen wird; er verändert sich ja durch die Krankheit. Deshalb sollte sich jeder überlegen, ob er als Gesunder nicht vielleicht sein Todesurteil unterschreibt, wenn er im voraus Verfügungen über sein eigenes Leben und Sterben abgibt.
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Die Befürworter des ‘humanen Sterbens’ und anderer Tarnbegriffe wollen diese Veränderungen nicht tolerieren. Für sie gibt es eine ganz einfache Trennung in Schafe und Böcke. Aber auch die Krankheit gehört zum Leben. Eine Gesellschaft, die sich ernsthaft fragt, ob sie sich wirkliche Menschlichkeit ökonomisch noch leisten kann, steht am Rande der Barbarei.
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Die Schwächsten abschaffen? Wir fordern den Schulterschluss auch mit den Alten in der Gesellschaft
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Die Vorgänge in Nazideutschland, die Tötung kranker Menschen, die einfach als unheilbar erklärt wurden, verbieten unserer Ansicht nach jede seriöse Diskussion um die Tötung Kranker oder Behinderter.
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Leugnung von Besserung oder Besserungsperspektiven und medizinischer Fortschritt. Auch dies ist ein Grundzug der Argumente von Euthanasie-Befürwortern. Jedem, der für uns Pessimist sein will, kann man die erstaunlichen Fortschritte der Intensivmedizin und Pflege in den letzten Jahren entgegenhalten.
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Unzulässige Verzerrung von Einzelfällen
Der ‘klassische’ Fall sind die alten Krebspatienten, deren Leiden ‘unnötig verlängert’ werden. Hier wird Stimmung gegen Kranke gemacht. Kaum ein Arzt wird seine Patienten unnötig quälen, wenn doch, gibt es dafür Gerichte. Über die tausenden von Patienten, die der Intensivmedizin die Chance für einen neuen Start verdanken, wird kein Wort verloren. Vom Vorhandensein einer modernen Schmerztherapie ganz zu schweigen.
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Keine Generallösungen! Der Einzelfall muß immer im Vordergrund stehen
Wir wehren uns gegen die Verallgemeinerung von Fällen, in denen ganz bestimmte Faktoren einseitig herausgestellt werden, und die unserer eigenen jeweiligen Situationen nicht angemessen sind. Jeder Einzelfall ist ein kostbares menschliches Schicksal, für das es keine genormten Lösungen geben kann.
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Engagement für das Weiterleben, nicht für den Tod!
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Dominanz der ‘gesunden’ Perspektive angreifen! Gesundheit ist ein hohes Gut, aber kein Wert an sich. Wer sich nicht um die Perspektive seiner kranken oder behinderten Mitmenschen kümmert, kann und darf auch keine Entscheidungen über sie fällen. Wir selbst wissen besser, was gut für uns ist.
Beschlossen in Rheinsberg, 31.10./1.11.2003
Kontakt: LIS e.V. - Geschäftsstelle im KEH
Herzbergstr.79, Haus 30, 10365 Berlin
Tel.: 030/547270 (Di - Do) oder 030/2168872
aktualisiert:
am
Donnerstag, 01.01.1970, 01.00