Sozialhilfe in neuem Gewand und fast niemand hat es bemerkt
Fast völlig unbemerkt von einer breiteren Öffentlichkeit haben Bundestag und Bundesrat, nachdem letzterer den Vermittlungsausschuss angerufen hatte, im Dezember 2003 die Reform des Sozialhilferechts beschlossen. Das Gesetzeswerk, das bisher unter dem Namen ’Bundessozialhilfegesetz’ (BSHG), firmierte, wird zum 01.01.2005 in das Sozialgesetzbuch eingegliedert - unter dem Titel ’Sozialgesetzbuch (SGB) Zwölftes Buch (XII) - Sozialhilfe’. Demzufolge soll in diesem Beitrag auch die Kurzbezeichnung SGB XII verwendet werden. Das BSHG galt seit Schaffung des Sozialgesetzbuches (SGB) schon als `Besonderer Teil` des Sozialgesetzbuches, folglich waren auch schon die Regelungen über das Sozialverwaltungsverfahren und den Sozialdatenschutz im Zehnten Buch des SGB anzuwenden .
Doch die am meisten interessierende Frage, die über diese Formalien hinausgeht, ist: Was ändert sich durch die Schaffung des SGB XII gegenüber dem bisherigen BSHG?
Bereits in § 1 Satz 2 SGB XII wird deutlich, worum wesentlich es dem Gesetzgeber bei der Schaffung des Gesetzes gegangen ist, nämlich um die Stärkung der Eigen-initiative der betroffenen HilfeempfängerInnen . Dabei setzt der Gesetzgeber eine Tendenz fort, die er spätestens mit der Schaffung des SGB III - Arbeitsförderung im Jahre 1996 begonnen hat, nämlich Sozial(versicherungs-)leistungen weitgehend von dem Bemühen der LeistungsempfängerIn abhängig zu machen.
In § 2 SGB XII wird dann der Nachranggrundsatz der Sozialhilfe postuliert, also die Tatsache, dass die Sozialhilfe nur dann greift, wenn sich die AntragstellerIn nicht selber helfen kann, dies auch keine der AntragstellerIn nahe stehende Person kann und keine andere Sozialleistung greift. Neu ist hierbei, dass ausdrücklich festgehalten wird, dass eine Leistung, die ein anderer Leistungsträger zu gewähren hat, nicht schon deshalb nicht versagt werden darf, weil diese Leistung auch nach dem SGB XII möglich ist . Eine Präzisierung, die insbesondere für behinderte Menschen und die sie vertretenden Verbände von Interesse ist, liegt darin, dass im Rahmen der Zusammenarbeit das SGB IX - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen, die darin verankerten gemeinsamen Servicestellen der Rehabilitationsträger und insbesondere auch die Verbände genannt sind, mit denen örtliche wie überörtliche Träger der Sozialhilfe kooperieren müssen.
Neu ist auch ein Sach- und Dienstleistungsvorrang der freien Wohlfahrtspflege, d.h. dort, wo Träger der freien Wohlfahrtspflege in der Lage und willens sind, Sach- und Dienstleistungen (mit letzterem ist insbesondere Beratung gemeint ) selbst anzubieten, soll der Sozialhilfeträger von einem eigenen Sach- oder Dienstleistungsangebot absehen. Dies betrifft allerdings nur Sach- und Dienst-, keine Geldleistungen .
Neu ist auch der Grundsatz, dass die Leistungen grundsätzlich als Geldleistung zu erbringen sind . Ausnahmen hiervon sind nur noch dann zulässig, wenn sie im Gesetz ausdrücklich genannt sind, die Leistung durch eine Sachleistung wesentlich wirtschaftlicher erbracht werden kann oder diese Leistungsform von der HilfeempfängerIn ausdrücklich gewünscht wird.
Erheblich ausgebaut gegenüber dem Recht des BSHG wird im SGB XII die Beratungsverpflichtung seitens der Sozialhilfeträger. Deutlich wird auch hier, dass es ein wesentliches Ziel des Gesetzgebers bei Schaffung des SGB XII war, die HilfeempfängerInnen überhaupt erst in die Lage zu versetzen, ihre Rechtsansprüche auch anderen Sozialleistungsträgern wahrzunehmen und sie zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu befähigen. Da nach dem Recht des SGB XII das persönliche Budget auch in der Sozialhilfe umfänglicher erprobt und nach der Erprobungsphase durchgeführt werden soll, umfasst die Beratung auch die Budgetierung.
Deutlich präzisiert werden auch die (Un-)Zumutbarkeitsregeln bei der Verpflichtung, eine entgeltliche Tätigkeit aufzunehmen. Das gilt sowohl für den Bereich erwerbsgeminderter, kranker, pflegebedürftiger und behinderter Menschen , als auch für Menschen, die das Rentenalter erreicht haben und - als Auffangtatbestand - solche HilfeempfängerInnen, bei denen der Aufnahme einer Tätigkeit ein wichtiger Grund entgegensteht . Ein solcher wichtiger Grund liegt insbesondere bei der Betreuung eines Kleinkindes im Alter von weniger als drei Jahren vor . Weiterhin präzisierend weist der Gesetzgeber darauf hin, dass die Sozialhilfeträger die Verpflichtungen zu berücksichtigen haben, die sich aus Haushaltsführung und Pflegebedarf von Angehörigen ergeben können
Den obersten Landessozialbehörden wird eine Verpflichtung auferlegt, sowohl die Leistungserbringung als auch die Überprüfung der Qualitätssicherung der erbrachten Leistungen zu fördern.
Der Individualisierungsgrundsatz in der Sozialhilfe, also die Regelung, dass die Hilfe nach dem Einzelfall zu leisten ist, wird dahingehend aufgewertet, dass die Regel ’ambulant vor stationär’ regelmäßig gilt , außer in den Fällen, in denen der Bedarf anders als durch eine stationäre Unterbringung nicht gedeckt werden kann und die ambulante Versorgung unverhältnismäßige Mehrkosten verursachen würde . Sofern die Unterbringung in einer stationären Einrichtung unter Berücksichtigung der persönlichen, familiären und örtlichen Umstände schon nicht zumutbar ist, ist kein Kostenvergleich mehr vorzunehmen.
Problematisch erscheint, dass auch Leistungen, die nicht im Rahmen der Hilfe zum Lebensunterhalt (HLU) erbracht werden, auf das zum Leben Unerlässliche eingeschränkt werden können, wenn eine HilfeempfängerIn trotz Belehrung ihr ’unwirtschaftliches Verhalten’ fortsetzt . Da es sich beim ’unwirtschaftlichen Verhalten’ um einen unbestimmten Rechtsbegriff handelt, ist dieser zwar voll verwaltungsgerichtlich nachprüfbar, allerdings kann der Sozialhilfeträger die Leistungsgewährung zunächst einstellen, bis das Verwaltungsgericht entschieden hat.
Entgegen der bisherigen Regelung, die nur nach der Hilfe zum Lebensunterhalt (HLU) und der Hilfe in besonderen Lebenslagen (HbL) unterschied, hat der Gesetzgeber den Terminus der HbL zugunsten einzelner Hilfearten aufgegeben. Es sind dies die Hilfen zur Gesundheit, die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen, die Hilfe zur Pflege, die Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten sowie die Hilfe in anderen Lebenslagen . Hierbei handelt es sich allerdings ausschließlich um die Übernahme bereits bisher existierenden Hilfearten, die nunmehr lediglich als eigenständige Gruppen nicht mehr unter die HbL fallen, insbesondere werden bei der Hilfe in anderen Lebenslagen lediglich bereits bestehende Hilfegruppen innerhalb der HbL in einer eigenen Gruppe zusammengefasst . Durch § 8 Ziff. 2 SGB XII i.V.m. Art. 68 Abs. 1 Ziff. 5 SGB XII wird das Gesetz über eine bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsunfähigkeit (Grundsicherungsgesetz - GSiG) aufgehoben und als eigenständiges Kapitel in das SGB XII eingegliedert.
Da sich dieser Beitrag vorwiegend an behinderte Menschen richtet, konzentriert er sich in seiner weiteren Darstellung auf Änderungen oder Ergänzungen, die sich bei den Hilfeformen Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsunfähigkeit, der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen und der Hilfe zur Pflege ergeben. Da sich bei der Hilfe zur Gesundheit, die für diesen Personenkreis auch relevant sein kann, im Leistungsspektrum keine Änderungen ergeben, kann deren Beschreibung hier außen vor bleiben.
Eine Besonderheit bei der HLU ergibt sich dadurch, dass künftig für HilfeempfängerInnen regelmäßig Beiträge für die Kranken- und Pflegeversicherung durch den Sozialhilfeträger zu leisten sind . Weiterhin greift der Grundsatz der Vermutung der Bedarfsdeckung durch in einer Wohnung zusammenlebende Menschen, bei denen eine der BewohnerInnen HLU erhält nicht, wenn die HilfeempfängerIn behindert oder pflegebedürftig ist.
Bei der Grundsicherung wird der Mehrbedarf für behinderte Menschen (die das Merkzeichen ’G’ im Schwerbehindertenausweis haben) um 3% von 20 auf 17% des Eckregelsatzes für einen Haushaltsvorstand vermindert .
Änderungen in der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen; Persönliches Budget wird nun auch ausdrücklich in der Sozialhilfe genannt
Im Rahmen der Leistungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen wird konsequenterweise das trägerübergreifende persönliche Budget auch im Gesetzestext des SGB XII eingeführt. Diese Leistungsform gibt es zwar bereits seit dem Inkrafttreten des SGB IX - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (1. Juli 2001, sie ist aber bislang kaum zur Anwendung gebracht worden. Das persönliche Budget, von der Behindertenselbsthilfe seit langem gefordert, kann aber nur dann für behinderte Menschen tatsächlich fruchtbar gemacht werden, wenn es tatsächlich individuell ausgestaltet ist, den tatsächlichen Bedarf abdeckt und dabei kein Behinderungsbild außen vor lässt und auch nicht innerhalb eines Behinderungsbildes dem Leistungsumfang nach pauschaliert wird. Ansonsten gerät ein persönliches Budget schnell zu einer in Wahrheit pauschalierten Leistung, die permanent dem ’Fallbeil’ der Kostenminderung unterliegt.
Die Gesundheitsämter erfahren durch die Anbindung an die Servicestellen eine deutliche Aufwertung im Rahmen der Abklärung des Rehabilitationsbedarfes und der Abstimmung der Vorbereitung des Eingliederungshilfebedarfes für Personen, denen Leistungen der Eingliederungshilfe zustehen können.
Im Rahmen der Leistungserbringung bei der Häuslichen Pflege hätte man sich gewünscht, dass die ambulanten Dienste und die selbst beschafften Leistungen nach dem sog. ’Arbeitgebermodell’ gegenüber der pflegerischen und hauswirtschaftlichen Versorgung durch Verwandte, Bekannte und Nachbarn zumindest Erwähnung finden. Hier hält sich der Gesetzgeber jedoch zurück und präferiert nach wie vor den Ansatz, weshalb das SGB XI - Soziale Pflegeversicherung im Jahre 1994 einmal geschaffen worden ist; nämlich zur Reduzierung der Sozialhilfekosten im stationären Altenpflegebereich hin zu einem Pflegemodell durch Angehörige und Nachbarn .
Eine Leistungsausweitung erfährt jedoch die Haushaltshilfe. War es bislang nahezu unmöglich, diese Leistung dauerhaft zu erhalten, ergibt sich diese Möglichkeit nunmehr dann, wenn hierdurch die Unterbringung in einer stationären Einrichtung verhindert oder doch zumindest aufgeschoben werden kann.
Einen gravierenden Einschnitt bedeuten die neuen Regelungen für den Einsatz eigenen Einkommens und Vermögens der Hilfeempfängerinnen unter anderem bei Leistungen der Eingliederungshilfe und der Hilfe zur Pflege. Galt bislang für diese Leistungen eine Einkommensgrenze von regelmäßig dem dreifachen Eckregelsatz eines Haushaltsvorstandes, für Hilfebedürftige in der Pflegestufe III und bei der Blindenhilfe gar der sechsfache Eckregelsatz, so ist diese Einkommensgrenze jetzt für diese Leistungen auf den zweifachen Eckregelsatz abgeschmolzen worden. Das bedeutet konkret, dass behinderte und pflegebedürftige Menschen ein Vielfaches Mehr an Einkommen für Leistungen der Eingliederungshilfe beziehungsweise der Hilfe zur Pflege einsetzen müssen, als dies bisher der Fall war.
Eine wesentliche Änderung erfährt die Sozialhilfe auch in der sachlichen Zuständigkeit der Sozialhilfeträger in Teilbereichen der Eingliederungshilfe und der Hilfe zur Pflege. Waren für beide Bereiche bislang die örtlichen Sozialhilfeträger zuständig, findet hier eine Verlagerung der Zuständigkeit hin zu den überörtlichen Trägern statt, sofern nicht das Landesrecht etwas Gegenteiliges bestimmt.
Alles in allem lässt sich konstatieren, dass einigen wenigen, eher kosmetischen Verbesserungen und der nach wie vor vorherrschenden Ungewissheit im Hinblick auf die Ausführung persönlicher Budgets ein gravierendes Manko gegenübersteht: Behinderte und pflegebedürftige Menschen werden für Leistungen, die sie aufgrund ihrer Behinderung oder ihrer Pflegebedürftigkeit benötigen, in einem wesentlich höheren Umfang zur Kasse gebeten, als dies bislang üblich war. Das macht die - nach wie vor - berechtigte Forderung nach einem Leistungsgesetz für behinderte Menschen, nach dem Leistungen auch der Eingliederungshilfe und der Hilfe zur Pflege einkommens- und vermögensunabhängig erbracht werden sollen, deutlich schwieriger denn einfacher. Ärgerlich ist das Ganze auch deswegen, weil es unter einer Regierungskoalition erfolgt ist, die sich die bürgerschaftliche Teilhabe von Menschen auf ihre Fahnen geschrieben hat. Mit dem vorliegenden Gesetz wird Teilhabe zum 01.01.2005 eher schwerer denn leichter gemacht!
Alexander Drewes