Ein Kommentar von Alexander Drewes
Nun ist es also Fakt: Wie das Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (BMGS) mittlerweile bestätigt hat, ist tatsächlich ein Gesetzgebungsverfahren in Planung, das die Freifahrtberechtigung behinderter Menschen im öffentlichen Personennahverkehr massiv beschneiden soll. Danach sollen behinderte Menschen nurmehr innerhalb der eigenen Kreisgrenze beziehungsweise innerhalb des ‘eigenen’ Verkehrsverbundes frei fahren dürfen. Argumentiert wird von Seiten des BMGS damit, dass die ‘Wertmarke’, die die Freifahrtberechtigung erst ermöglicht, nichts mit der fehlenden Nutzbarkeit beispielsweise von Fahrkartenautomaten oder der noch weitgehend fehlenden Barrierefreiheit von Infrastruktur und Fahrzeugparks zu tun habe. Man fragt sich allen Ernstes, ob das zuständige Fachreferat im BMGS eigentlich ein einiges Mal in das Gleichstellungsgesetz für behinderte Menschen hinein geguckt hat, ehe es einen derartigen Unsinn verzapfen konnte.
Natürlich, so wird man sich herausreden, sei man für die fehlende Barrierefreiheit gar nicht zuständig, das sei Sache der entsprechenden Verkehrsunternehmen beziehungsweise der Verkehrsverbünde. Ja, um Himmels Willen, weshalb vergibt der Bund dann seit Jahren Mittel im öffentlichen Personenverkehr zur Schaffung von Barrierefreiheit, wenn er sich jetzt auf eine derart windelweiche Position zurückziehen darf.
Das BMGS hat anscheinend überhaupt nicht verstanden, dass es sich bei der - auch über den eigenen Ort und dein eigenen Verkehrsverbund hinaus reichenden - Freifahrtberechtigung nicht um einen ‘bonus track’ im Sinne einer Besserstellung behinderter mit nicht behinderten Menschen handelt, sondern um einen echten Nachteilsausgleich. Wenn man diesen auch noch beschneidet, bleibt ernstlich zu fragen, welche Nachteilsausgleiche außer denjenigen im Arbeitsleben für behinderte Menschen denn überhaupt noch übrig bleiben? Bei einer Arbeitslosenquote, die selbst derjenigen nicht behinderter Menschen Hohn spricht und einem Anteil an Rentenempfängern wegen verminderter Erwerbsfähigkeit verkommt das SGB IX (darin ist die Freifahrberechtigung grundsätzlich geregelt) zunehmend mehr zu einem Nachteilsausgleichsgesetz für in Beschäftigung befindliche behinderte Menschen.
Wie eine Ohrfeige für schwerstbehinderte Menschen muss infolgedessen auch die Überlegung seitens einer Staatssekretärin in Nordrhein-Westfalen wirken, die sich ernstlich an die Überlegung gemacht hat, in völliger Verkennung eines Urteils des Bundessozialgerichtes die Befreiung von der Rundfunk- und Fernsehgebührenpflicht gleich noch mit abzuschaffen. Dabei muss man wissen, dass die Befreiung von der Rundfunk- und Fernsehgebührenpflicht bereits jetzt schon nur für Menschen gilt, die an öffentlichen Veranstaltungen selbstständig nicht oder nur unter unzumutbaren Benachteiligungen teilnehmen können. Wichtig dabei sind zwei Kriterien, über die - bemerkenswerter Weise genau wie bei der Freifahrtberechtigung - von offizieller Seite überhaupt nicht diskutiert wird. Zum einen fehlt jeder Hinweis darauf, dass Fernsehen und Rundfunk für sinnesbehinderte Menschen (und das ist der Großteil derjenigen, die von der Befreiung der Rundfunk- und Fernsehgebührenpflicht ‘profitieren’) nach wie vor in großen Teilen nicht selbstständig nutzbar sind. (Genau wie der ÖPNV auch nicht, weswegen das Argument des Pressesprechers des BMGS, Vater, Blinde könnten ja nach wie vor mit einer kostenfrei zu befördernden Begleitperson reisen, ein schierer Hohn ist). Zum anderen findet der Begriff des Nachteilsausgleichs im Grunde überhaupt keine Erwähnung mehr.
So wenig, wie es seh- und hörbehinderten, körper- und lernbehinderten Menschen regelmäßig möglich ist, selbständig den ÖPNV zu nutzen, so wenig ist es zumindest sinnesbehinderten Menschen möglich, den ÖPNV selbständig zu nutzen. Von lernbehinderten Menschen ganz zu schweigen, aber welche Rundfunkanstalt hätte sich seit jeher auch nur im Ansatz Mühe gegeben, auch nur einen einzigen Beitrag in einfacher Sprache zu senden, sieht man vielleicht einmal - aber auch dies ist ein völlig schiefer Vergleich - vom Kinderprogramm ab?
Wohl gemerkt, wir haben es hier mit einem Personenkreis zu tun, der - statistisch nachweisbar - regelmäßig über ein geringeres Einkommen verfügt (wenn er denn überhaupt über ein Erwerbseinkommen verfügt, was bei einem Großteil der hier in Rede stehenden Personen schon gar nicht der Fall ist), weil er großenteils nur in geringerem zeitlichem Umfang leistungsfähig ist, als dies nicht behinderte Menschen sind. Selbst wenn man davon ausgeht (und das ist ja vielfach auch der Fall), dass behinderte Menschen in gleichem Maße ihre Berufstätigkeit so ausfüllen, wie dies nicht behinderte Menschen tun, so bleibt trotzdem ein psychischer und vielfach physischer ‘schnellerer’ Verbrauch von Ressourcen am eigenen Leib und an der eigenen Psyche zu konstatieren, als dies bei nicht behinderten Menschen der Fall ist.
Man ist schon versucht, nachdem man sich die Ausführungen der Ministerialen aus den letzten Wochen so zu Gemüte führt, ‘setzen, sechs!’ zu schreiben - » noch einmal ins BGG gucken, sprachliche Demut lernen, dann noch mal wieder kommen! « Und dann sollten vielleicht auch einmal Vorschläge unterbreitet werden, die nicht nur deshalb gemacht werden, weil einem - wie im Falle des Gesetzgebungsverfahrens zur Abschaffung der Freifahrtberechtigung - der Bundesrechnungshof ins Kreuz gestiegen ist.
Es sollten auch Vorschläge sein, die mit den Behindertenverbänden abgestimmt sind - was haben wir im letzten Jahr nicht alles reden hören vom » Willen zur Beteiligung behinderter Menschen am politischen Prozess «! Und wozu, so fragt man sich mit zunehmender Verzweiflung, gibt es eigentlich einen Deutschen Behindertenrat, wenn die Politik sich noch derartige Schnitzer leisten kann?